Freundschaftsprojekt #3.2

Liebe Sholeh!

Kaska Bryla © Carolin Krahl

Lesen Sie zuerst diesen Brief von Sholeh an Kaśka.

Der Antwortbrief der Leipziger Schriftstellerin Kaśka Bryla an ihre niederländische Brieffreundin Sholeh Rezazadeh:

 

Liebe Sholeh,

vielen Dank für deinen schönen Brief, ich habe ihn sehr genossen, genau wie unser erstes Gespräch über Zoom (Zoom, bester Freund der Pandemie), bei dem ich 15 Minuten zu spät kam und du immer noch da warst, geduldig und verständnisvoll.

Ich bin immer noch nicht ganz gesund, aber mein Arzt hat gesagt, dass die meisten Infektionen in diesem Sommer etwa sechs Wochen dauern und ich bin jetzt in der vierten Woche, leicht deprimiert vom Herumliegen und dem Warten darauf, endlich wieder zu Kräften zu kommen.

Sehr interessant in deinem Brief finde ich die Überlegung, dass Freundschaft in einem neuen Land der endgültige Abschied vom Heimatland ist. Während unseres Gesprächs kam dieser Gedanke nicht zur Sprache und jetzt, wo ich ihn lese, denke ich, dass er für mich vielleicht der wichtigste ist. Denn wenn man irgendwo wirklich ankommt, sich niederlässt, ist womöglich genau das das zentrale Moment: Wenn man sein Herz für die Menschen dort öffnet und gleichzeitig die anderen, alten, hinter sich lässt. Natürlich nicht völlig, aber in gewisser Hinsicht schon.

Während meiner Kindheit zwischen zwei Ländern, Österreich und Polen, zwischen Familien hier und dort, Freund:innen hier und dort, wuchs ich auch mit dem ständigen Gefühl auf, jemanden zurückzulassen und erst nach einigen Monaten wieder zu diesem Menschen zurückzukehren, der in der Zwischenzeit ohne mich gewachsen und jemand Neues geworden war. Ich glaube, dass ich es mir kaum anders vorstellen kann, weil mich dieser Prozess mein ganzes Leben begleitet hat, aber ich kann auch verstehen, warum es für andere vielleicht schwierig ist. Meine Mutter war sehr jung, als sie nach Österreich auswanderte. Sie fand viele österreichische Freund:innen, hat aber auch Kontakt zur polnischen Community gehalten. Mein Vater war über 40, als er nach Österreich ging. Er blieb meist in der polnischen Community.

Aber zurück zu deinem Brief und deiner Schlussfolgerung, wenn ich sie richtig verstanden habe. Ich glaube nicht, dass alles nur vorübergehend und jeder nur ein flüchtiger Vorbeigänger ist, eher würde ich folgern, dass es große Anstrengung kostet, die vertraute Komfortzone aus der wir kommen, auch nur teilweise zu verlassen und unser Herz wahrhaftig und ehrlich für das Neue zu öffnen. Was denkst du?

Kaśka

21.09.2023

 

Aus dem Englischen übersetzt von Hanna Otte.

 

 

Unter dem Titel „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“ setzen sich die sechs Autorinnen Aya Sabi, Marlen Hobrack, Nadia de Vries, Linn Penelope Rieger, Sholeh Rezazadeh und Kaśka Bryla aus den Niederlanden, Flandern und Leipzig mit dem Thema Freundschaft auseinander. Was genau macht eine echte Freundschaft aus? Was bedeuten uns Freunde in unsicheren Zeiten? Wie weit würden wir in Zeiten von Krisen und Kriegen für einen Freund oder eine Freundin gehen? Während des literarischen Herbstes begegneten sich die Autorinnen zum ersten Mal persönlich. Im Februar werden sie sich in Rotterdam und Antwerpen wiedertreffen und im März gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse auftreten. Und bis dahin? Schreiben sie sich und werden vielleicht – hoffentlich – Freundinnen.

Kaska Bryla © Carolin Krahl