Freundschaftsprojekt #3.1

Liebe Kaśka!

Sholeh Rezazadeh © Afra Asiabi

Der erste Brief der Niederländerin Sholeh Rezazadeh an ihre Leipziger Brieffreundin Kaśka Bryla:

 

Liebe Kaśka,

‘Heim kommt man nie. Aber wo befreundete Wege zusammenlaufen, da sieht die ganze Welt für eine Stunde wie Heimat aus.’

Nach unserem ersten Gespräch musste ich an dieses Zitat von Hermann Hesse denken.

Du saßt in deinem Zimmer in Leipzig, noch erschöpft von einer Krankheitsphase, und du warst nicht abgeschreckt, als ich direkt über Freundschaft sprechen wollte.

‘Wir sind Schriftstellerinnen, wir mögen keinen Smalltalk‘, sagten wir lachend.

Ich habe dir erzählt, dass ich viele Dinge geschafft habe in meinem neuen Land; dass ich die Sprache gelernt habe, meinen Traum, Schriftstellerin zu werden, verfolgt habe, in einem ruhigen Teil von Amsterdam eine Wohnung mit orangenen Wänden und vielen Fenstern mit Blick auf einen schönen großen Baum gekauft habe, und wenn die Sonne nicht scheint, erfreue ich mich auch an den Wolken, die mich an die Berge erinnern. Die farbenfrohen, singenden Wolken. Hier habe ich gelernt zu sagen, was ich denke und ich finde es nicht mehr schlimm, auf Partys nach dem Wetter und meiner Arbeit gefragt zu werden, anstatt zu tanzen und über Politik oder Poesie zu reden. Wenn jemand Monate vorher eine Verabredung mit mir planen will, sage ich nicht mehr, dass ich nicht mal einen Plan für morgen Abend habe, geschweige denn für in mehreren Monaten.

Aber was ich noch nicht geschafft habe, ist „Freundschaft“.

Nicht, dass ich in meinem neuen Land niemanden kenne oder noch keine schönen Momente mit jemandem geteilt hätte, aber das Gefühl, bei jemandem zu Hause zu sein, echte Freundschaft, habe ich hier noch nicht erlebt. Alles war zu kurz, zu geplant, zu distanziert oder zu kalt.

Ich erzählte dir, dass ich vielleicht tief in meinem Herzen keine Freundschaft will, obwohl ich mich doch danach sehne. Ich glaube, dass wenn ich hier echte Freundschaft schließe, die letzte Brücke hinter mir abbreche, die mich noch mit meiner Heimat verbindet.

Und du erzähltest mir, dass du den süßen Geschmack echter Freundschaft ausgerechnet dann gekostet hattest, als du zeitweise in Amsterdam wohntest. Mit einer Gruppe von Menschen polnischer Herkunft. In Amsterdam bei ihnen warst du nicht mehr eine Deutsche mit gemischtem Hintergrund, sondern einfach Polin. Und du erzähltest mir, dass du das erste Mal in deinem Leben das Gefühl hattest, mit den anderen verbunden zu sein, die dort auch vorübergehend lebten.

Vielleicht ist es das. Das Wissen, dass alles vorübergehend ist. Dass jeder ein Vorbeigänger ist, der ab und zu ein paar Nächte lang in deinem Leben übernachtet.

 

Deine

Sholeh

Amsterdam, 11.09.2023

 

Aus dem Niederländischen übersetzt von Hanna Otte.

 

Neugierig, wie es weitergeht? Den Antwortbrief von Nadia an Linn gibt es hier.

 

Unter dem Titel „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“ setzen sich die sechs Autorinnen Aya Sabi, Marlen Hobrack, Nadia de Vries, Linn Penelope Rieger, Sholeh Rezazadeh und Kaśka Bryla aus den Niederlanden, Flandern und Leipzig mit dem Thema Freundschaft auseinander. Was genau macht eine echte Freundschaft aus? Was bedeuten uns Freunde in unsicheren Zeiten? Wie weit würden wir in Zeiten von Krisen und Kriegen für einen Freund oder eine Freundin gehen? Während des literarischen Herbstes begegneten sich die Autorinnen zum ersten Mal persönlich. Im Februar werden sie sich in Rotterdam und Antwerpen wiedertreffen und im März gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse auftreten. Und bis dahin? Schreiben sie sich und werden vielleicht – hoffentlich – Freundinnen.

Sholeh Rezazadeh © Afra Asiabi