Freundschaftsprojekt #4.2

Liebe Aya!

Marlen Hobrack © Michael Bader

Lesen Sie zuerst diesen Brief von Aya an Marlen. 

Der Antwortbrief der Leipziger Schriftstellerin Marlen Hobrack an ihre flämische Brieffreundin Aya Sabi:

 

Liebe Aya, 

wie wundervoll, dass du dich daran erinnert hast, dass ich Steine mag – genau wie Penelope. Als sie ihr Interesse für Steine, Ausgrabungen und Bergbau erwähnte, erinnerte es mich daran, wie ich selbst  Steine und Kiesel (oder manchmal auch Muscheln, Knochen und Federn) vom Boden aufhebe. Ich bin eine Sammlerin und liebe natürliche Formen, sie inspirieren mich. Für mich sind sie wie Zeichnungen, Gemälde und Collagen – wenn ich nicht gerade schreibe, wende ich mich der visuellen Kunst zu, meiner zweiten großen Leidenschaft. Übrigens, die Geschichte über die Touristin in der Türkei – im ersten Moment scheint sie fast verrückt, aber dann dachte ich: Es gibt zweifellos eine besondere Beziehung zwischen dem Land und der Landschaft, den Menschen und der Erde. Es sind nur Steine, aber es steckt immer mehr dahinter.

Ich mag Wandern, Umherstreifen (wandern und mich wundern), besonders in der Sächsischen Schweiz – sie ist auch bei Touristen sehr beliebt. Vielleicht kennst du das berühmte Gemälde von Caspar David Friedrich: Der Wanderer im Nebelmeer. 

Hier ist es: 

 

Die Berge auf dem Bild gibt es wirklich, es sind Berge aus der Sächsischen Schweiz. Aber sie sind nicht alle an der richtigen Stelle. Friedrich hat nicht nur eine visuelle, sondern eine emotionale Landschaft erschaffen. Das Bild ist wohl eines der berühmtesten deutschen Gemälde. Praktisch jeder kennt es. Ich habe es schon eine Millionen Mal gesehen und finde es immer noch berührend. Dieses Gefühl der Sehnsucht und der emotionalen Aufgewühltheit. Der Mann strahlt äußerlich völlige Ruhe aus, aber wer weiß, was in ihm vorgeht. 

Vielleicht beschreibt das gut, wie ich mich im Moment fühle. Nach außen hin wirke ich ruhig. Innerlich fühle ich eine seltsame Rastlosigkeit und Tatkraft. Ich will arbeiten, ich will schreiben. Ich will so viel schreiben, wie ich kann. Seit dem Tod meiner Mutter fühle ich mich gejagt von einem Gefühl der Dringlichkeit, die Dinge zu tun, die ich schon immer tun wollte. Es fühlt sich fast an wie eine Midlife-Crisis, wie die seltsame Erkenntnis, dass Zeit in unserem Leben nicht unendlich ist und ich sie besser weise nutzen sollte. Aber immer, wenn ich versuche, mich zu entspannen, habe ich das Gefühl, meine Zeit zu vergeuden und denke, es wäre besser etwas Sinnvolles zu tun. 

In diesem Jahr veröffentliche ich zwei neue Bücher. Eines ist sehr persönlich und handelt vom Verlust meiner Mutter – und davon, was von ihrem Leben übrig bleibt. Das Schreiben dieses Buches hat mich ausgelaugt. Ich fühle mich erschöpft und doch hatte ich das Gefühl, es tun zu müssen. 

Ich denke darüber nach, was du in deinem letzten Brief über Mutterschaft gesagt hast. Der Grund, aus dem ich über Mutterschaft schreibe, hat mit dem zu tun, was du angedeutet hast. So viele Mütter wirken unglücklich, obwohl sie sich bewusst für Mutterschaft entschieden haben. Aber du hast absolut Recht: Wie kann man sich jemals echt für etwas entscheiden, das man vorher nicht selbst erlebt oder ausprobiert hat?

Für mich ist Mutterschaft erfüllend. Es bereitet mir Freude, aber natürlich gibt es auch Tage, an denen ich wünschte, alleine zu sein und mich nur um mich selbst kümmern zu müssen. Ich denke, das ist normal. Aber meine Kinder sind die einzigen Menschen, mit denen ich mich richtig entspannt fühle. Jede andere Person, egal wie sehr ich sie mag und wie lang ich sie kenne, gibt mir ein Gefühl der Fremdheit – Ich ertappe mich ständig dabei, dass ich mir Gedanken darüber mache, wie ich auf andere wirke, ob ich etwas falsch mache, etc., wenn andere Menschen um mich herum sind. Mit meinen Kindern ist das anders: Sie sind da, ich bin da, ich bin ich selbst. 

Du hast absolut recht, dass Schreiben etwas ist, das man in Stille tun muss. Darum ist mein Schriftstellerinnenleben durch und durch organisiert und von Routinen bestimmt: Jeden Morgen gegen 8:30 Uhr, wenn alle anderen die Wohnung verlassen haben, beginne ich zu schreiben. Ich setze mich mit einer Tasse Tee an den Schreibtisch und versuche, zwei Stunden ohne Pause zu schreiben. Dann trinke ich einen zweiten Kaffee (Den ersten trinke ich zum Frühstück. Und ich brauche ihn wirklich😉). Bevor ich mein Mittagessen koche, versuche ich weitere 90 Minuten zu schreiben. Normalerweise lese ich nach dem Mittagessen – für mich sind Lesen und Schreiben ganz eng miteinander verbunden. Es ist, als würde das Lesen mein Gehirn neu verdrahten und die Ideen, die ich bereits hatte, wachrütteln. 

Ich lese bis 15 Uhr und versuche dann, mich zu entspannen, indem ich mir eine dumme Sitcom oder etwas anderes ansehe. Nur, um mein Gehirn komplett zu leeren. Dann kommen mein Partner und der Kleine gegen 16 Uhr nach Hause und der Familienalltag beginnt. Als ich bei einer Lesung von dieser Routine erzählte, lachte ein Zuschauer, weil sie ihm so reglementiert und überhaupt nicht kreativ vorkam. Aber genau das ist der Punkt: Ich brauche Routinen, um kreativ zu sein. Mein Gehirn weiß einfach, dass es Zeit ist zu arbeiten, wenn ich am Schreibtisch sitze und ich erlebe selten so etwas wie eine Schreibblockade. 

Ich erinnere mich an unser Gespräch über die Herausforderungen, die es mit sich bringt, eine weibliche Schriftstellerin zu sein… Wie männliche Kritiker dazu neigen, Romane von jungen Frauen als weniger wertvoll zu betrachten, die Art wie sie urteilen und unterschätzen. Die Art, wie sie Macht ausüben. Mir ist aufgefallen, dass weder männliche noch weibliche Kritiker:innen oder Leser:innen den Begriff „genial“ für Schriftstellerinnen verwenden, selbst dann nicht, wenn sie wirklich außergewöhnlich sind (wie Hilary Mantel – ich bewundere ihre Arbeit so sehr). Ich finde das frustrierend. Aber dann erinnere ich mich daran, dass auch ich eine Kritikerin bin und eine gewisse Macht habe, interessante Schriftstellerinnen zu rezensieren, die sonst vielleicht übersehen werden. 

Apropos interessante Schriftstellerinnen: Ich habe Ausgaben von „Half leven“ von Nadias, Sholehs und Margots Büchern gekauft. Ich versuche sie gerade zu lesen – natürlich mit der Hilfe von Google-Übersetzer. Zum Glück hat Nadia einige ihrer Bücher auf Englisch geschrieben. 

Arbeitest du gerade an einem Buch? Würdest du mir etwas über deine aktuellen Projekte erzählen? Ich bin so neugierig. 

Ich freue mich darauf, dich und die anderen bald zu sehen. Und ich freue mich auch auf deine schönen Briefe. 

 

Alles Liebe

Marlen 

 

Aus dem Englischen übersetzt von Hanna Otte. 

 

 

Unter dem Titel „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“ setzen sich die sechs Autorinnen Aya Sabi, Marlen Hobrack, Nadia de Vries, Linn Penelope Rieger, Sholeh Rezazadeh und Kaśka Bryla aus den Niederlanden, Flandern und Leipzig mit dem Thema Freundschaft auseinander. Was genau macht eine echte Freundschaft aus? Was bedeuten uns Freunde in unsicheren Zeiten? Wie weit würden wir in Zeiten von Krisen und Kriegen für einen Freund oder eine Freundin gehen? Während des literarischen Herbstes begegneten sich die Autorinnen zum ersten Mal persönlich. Im Februar trafen sie sich in Amsterdam und Antwerpen und im März treten sie gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse auf. Und bis dahin? Schreiben sie sich und werden vielleicht – hoffentlich – Freundinnen.

Marlen Hobrack © Michael Bader