Freundschaftsprojekt #5.1

Liebe Linn!

Nadia de Vries © Lola Noir

Nadia de Vries © Lola Noir

Ein weiterer Brief der niederländischen Schriftstellerin Nadia de Vries an ihre Leipziger Brieffreundin Linn Penelope Rieger: 

 

Liebe Linn, 

ich schreibe diesen Brief im Bett, ich habe mir eine üble Erkältung eingefangen und die letzten drei Tage liegend verbracht. Irgendwie romantisch, krank im Bett zu liegen und einen Brief an eine Freundin zu schreiben. Wie aus einem anderen Jahrhundert. Es regnet seit Tagen und es scheint, als würde der November sein Bestes geben, den alarmierend milden Oktober wettzumachen. Ich will dir eine lustige Geschichte erzählen. Am gleichen Tag, an dem ich deinen letzten Brief erhielt, fand ich noch etwas anderes in meinem Briefkasten: eine mysteriöse Karte von einem örtlichen Hellseher, der seine Dienste anbietet. Ich lege sie diesem Brief bei, vielleicht überträgt sich etwas von der Magie des Hellsehers auf dich. Ich habe ihn gegoogelt und seine Follower scheinen mit seinen Ratschlägen sehr zufrieden zu sein. 

Es war toll, dich in Leipzig zu treffen. Du strahlst wirklich eine warme Energie aus, genau wie in deinen Briefen, und ich bin dankbar, dass wir endlich live miteinander sprechen konnten. Ich freue mich schon auf unser Treffen im März. Und Leipzig hat mir auch sehr gut gefallen. Ich habe es wirklich genossen, durch die Innenstadt zu spazieren, überall schienen kleine Überraschungen versteckt zu sein – Aya und ich entdeckten einen Innenhof zwischen zwei Hauptstraßen, in dem diese Skulpturen an den Wänden hingen. Mir hat auch gefallen, dass es in der Stadt so viele Bäume gibt. Stell dir also vor, wie sehr ich mich gefreut habe, als ich deinen Brief öffnete und ein Blatt darin fand. Danke für dieses Souvenir. Und es passt irgendwie, dass der Baum, dem es gehörte, krank ist, jetzt, wo ich mit meiner laufenden Nase und einer Handvoll Schmerztabletten im Bett festsitze. Mir kommt der Gedanke, dass ein sterbendes Blatt vielleicht die Art ist, auf die ein Baum hustet. 

Du hast mich nach der Bedeutung von Büchern für das Wohlbefinden gefragt, und es gibt definitiv einige Bücher, die sich für mich wie ein Ort der Erholung anfühlen. Eine Gedichtsammlung, zu der ich immer wieder zurückkehre, ist Diane di Primas „Revolutionary Letters“. Di Prima ist vor einigen Jahren verstorben, aber ihre Worte sind auch heute noch aktuell und passen irgendwie immer, wenn etwas Großes und Dringliches passiert. Di Prima glaubte, dass Schreiben dem Menschen Autonomie gibt. Ich teile ihre Philosophie vom Schreiben als ein Akt grundlegender, intellektueller Freiheit. Und es ist auch eine Art Experiment. Was mich zu deinen Büchern bringt, von denen du mir in Leipzig erzählt hast, die neuen über Vulkane und Steine. Ich wünschte so sehr, ich könnte sie lesen. Ich bin ein großer Fan von Büchern, die als hermetisch oder ‚unzugänglich‘ gelten, Begriffe, mit denen normalerweise Bücher beschrieben werden, die etwas ganz Neues versuchen. Wir sprachen kurz über das Glossar mit Bergbaubegriffen in deinem letzten Buch (Vielen Dank nochmal, dass du mir ein Exemplar geschenkt hast!), und über die Risiken einer den Lesenden eher befremdlichen Sprache. Ich persönlich habe eine Vorliebe für Literatur, die eine Begegnung mit dem Unbekannten ermöglicht – ich bin nicht an Wiederholungen von mir bereits Bekanntem interessiert. Wir haben noch nicht über unsere eigenen literarischen Einflüsse gesprochen, also fange ich an und erzähle dir von meinen: Ann Quin, Sarah Kane, Anna Kavan, Susan Taubes. Zwei neuere Favoriten – die auf Deutsch schreiben! – sind Marlen Hausdorfer und Emine Sevgi Özdamar. „Mutterzunge“ war tatsächlich eine stilistische Inspiration für meinen ersten Roman (obwohl ich es auf Englisch und nicht im Original gelesen habe). Und wie wahrscheinlich alle, mag ich Clarice Lispector. Wer sind deine Lieblingsautor:innen? Sind sie es auch, die dich stilistisch, thematisch oder existenziell inspirieren?

Und wo wir gerade dabei sind, wollte ich dich schon lange fragen: Was ist dein Lieblingsvulkan? Meiner ist der Tambora. 

Ich hoffe, dieser kalte November ist dir wohl gesonnen, und alles Gute dir und deiner Familie. 

 

Herzliche Grüße

Nadia

Amsterdam, 8. November 2023

 

Aus dem Englischen übersetzt von Hanna Otte. 

 

 

Neugierig, wie es weitergeht? Den Antwortbrief von Linn an Nadia gibt es hier.

 

Unter dem Titel „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“ setzen sich die sechs Autorinnen Aya Sabi, Marlen Hobrack, Nadia de Vries, Linn Penelope Rieger, Sholeh Rezazadeh und Kaśka Bryla aus den Niederlanden, Flandern und Leipzig mit dem Thema Freundschaft auseinander. Was genau macht eine echte Freundschaft aus? Was bedeuten uns Freunde in unsicheren Zeiten? Wie weit würden wir in Zeiten von Krisen und Kriegen für einen Freund oder eine Freundin gehen? Während des literarischen Herbstes begegneten sich die Autorinnen zum ersten Mal persönlich. Im Februar trafen sie sich in Amsterdam und Antwerpen und im März treten sie gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse auf. Und bis dahin? Schreiben sie sich und werden vielleicht – hoffentlich – Freundinnen.

Nadia de Vries © Lola Noir

Nadia de Vries © Lola Noir