Freundschaftsprojekt #5.2

Liebe Nadia!

Linn Penelope Rieger © Johannes Rieger

Linn Penelope Rieger © Johannes Rieger

Lesen Sie zuerst diesen Brief von Nadia an Linn. 

Der Antwortbrief der Leipziger Schriftstellerin Linn Penelope Rieger an ihre niederländische Brieffreundin Nadia de Vries:

 

Liebe Nadia,

Ich danke dir für deinen Brief! Es war wunderbar ihn aus dem Briefkasten zu angeln, zu lesen, und nun an diesem Sonntag Mittag darauf antworten zu dürfen. Die Sonne scheint, aber die Bäume husten (was für ein schöner Gedanke), die Kastanien sind bereits kahl.

Du bist unterdessen hoffentlich wieder ganz gesund?

Dein Brief kam ja mit der Anzeige des Psychologen — was soll ich sagen, ich liebe es! Ich habe keine Übersetzungsversuche angestellt, sondern allein das Schriftbild der Worte auf mich wirken lassen, was eine reine Freude ist! Da ich wirklich keine Ahnung vom Niederländischen habe, hat das ganze eine erheiternde Wirkung. Manche Worte sehen einfach zu komisch aus. Hopeloze, snel, afspraak.

Ich habe gleich online in Di Primas Letters hineingelesen. Weil 1 und 0 meine liebsten Zahlen sind (schlicht, ohne Schnickschnack), habe ich mir spontan Letter 10 angesehen.

 

These are years of transition and the costs will be high.
The change is fast, but the revolution
will take a while.
America has not even begun. This continent is a seed.

 

Und was soll ich sagen, ich verstehe gleich, was du gemeint hast mit der Dringlichkeit. Einmal auf einer gesellschaftspolitischen Ebene. Sie spricht von Amerika, aber mir scheint, dass diese Sätze einmal mehr auch auf Europa zutreffen. Und auch auf persönlicher Ebene: Der Winter, der hier mit dem ersten Schnee gerade zu beginnen scheint, bringt eine neue Innerlichkeit mit sich. Ich denke nach, über das Arbeiten. Die Energie, die ich habe, und wohin sie fließt.

Deine Einschätzung, dass du lesen willst, was du noch nicht kennst, finde ich wichtig. Es geht mir auch im Schreiben so. Irgendwie geht es immer darum, sich auf Bereiche zuzuschreiben, die noch im Dunkeln liegen. Du nennst auch Marlen Haushofer, eine meiner liebsten Bücher ist DIE WAND. Klar, es ist auch ihr bekanntestes Buch, aber die zahlreichen Lesarten haben es zu einem Werk gemacht, in dem ich alle Jahre wieder zu lesen beginne. Kannst du noch anderes von ihr empfehlen? Was ich sehr liebe, ist das Stundenbuch von Rilke, das Dao, Teile der Bibel. Ich bin keine Christin im klassischen Sinne, aber mich faszinieren heilige Schriften ungemein. Deshalb habe ich mein Vulkanbuch auch in drei Teile gegliedert: Leben, Sterben, Beten. Ich denke, auf diese Dinge läuft es im Leben grundsätzlich hinaus, auch wenn Religion im ursprünglichen Sinne an Bedeutung verliert, sind wir immer nach etwas auf der Suche. Zumindest mir geht es so.

Mein liebster Vulkan ist der Paektusan an der Grenze zwischen Nordkorea und China. Seine Geschichte ist unglaublich und eng verwoben mit der Sehnsucht nach einem geeinten Korea. Dazu erzähle ich dir mehr in Amsterdam, wenn du magst. Die Vorstellung, dass wir nun beide einen Winter erleben, ich in Deutschland, du in den Niederlanden, und dass wir uns dann mit dem beginnenden Frühling wiedersehen, stimmt mich irgendwie zuversichtlich. Ich liebe den Winter, wegen der ihm eigenen Schwermütigkeit, ich kann mich ihr deshalb so gut hingeben, weil ich weiß, dass er zu Ende gehen wird.

Weißt du, was mich umtreibt: Dieser Gedanke, dass es so schwierig ist als Erwachsener, sich anzufreunden. Ich lerne Menschen nur noch in Kontexten kennen. Auf der Arbeit, oder auf dem Spielplatz. Ich habe viel Kontakt mit Menschen, die mir nicht ähnlich sind, die ein ganz anderes Leben führen und mit mir nur einen Aspekt ihres Lebens gemein haben. Immer dieses Wissen, dass es der Zufall ist, der die Freundschaft hat beginnen lassen. Und dass sie fragil ist. Und die alten Freundinnen von früher, von denen man weiß, dass man ihnen heute nicht mal begegnen würde. Vielleicht ist es unsinnig, darüber nachzudenken, anstatt es einfach zu akzeptieren. Aber es entfremdet mich einfach von anderen und macht es mir schwer, eine gute Freundin zu sein. Wie ist das bei dir? Was bedeutet es für dich, eine Freundschaft zu pflegen?

Ich hoffe, es geht Latte gut! Wir haben gerade eine schwere Zeit mit unserem Kater. Er ist sehr krank, musste in die Klinik und Infusionen bekommen. Er ist jetzt wieder stabil, aber kann nicht ohne Medikamente leben. Was er hat, wissen wir allerdings nicht. Kurz dachte ich, er würde es nicht schaffen. Ich habe ihn mit sechs Wochen aufgenommen, nachdem die Mutter überfahren worden war. Ich kenne ihn also sein ganzes Leben. Und ich bin heilfroh, dass er noch lebt.

Ich stelle mir vor, dass es stürmt in Amsterdam. Erzähl mir doch vom Winter in Amsterdam, und woran du arbeitest. Ich schicke dir ein Gedicht, an dem ich gerade schreibe:

 

bevor Menschen sich den Buchstaben
zuwendeten lasen sie Spuren lasen auf was
der Boden hergab
die Rückkehr der Sprache eine Rückkehr der
Spuren, deiner und meiner, ein Schritt
Richtung Trittsiegel, ein Abdruck meines
Fußes neben der Fährte eines noch
unbekannten Tiers
es wird meinen Worten nicht folgen können,
aber meinen Spuren folgt es lautlos, drückt
seine Worte neben meine, in regenfeuchten
Staub überschreibt die Sprachlosigkeit meiner
lahmen Zunge, folgt meinem Schweigen in die
Hochebenen des Himalaya, wo die Bäume rar
sind, aber der Fels leuchtet in der dünner
werdenden Luft

 

Alles Liebe

Linn

Leipzig, 26.11.2023

 

 

Unter dem Titel „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“ setzen sich die sechs Autorinnen Aya Sabi, Marlen Hobrack, Nadia de Vries, Linn Penelope Rieger, Sholeh Rezazadeh und Kaśka Bryla aus den Niederlanden, Flandern und Leipzig mit dem Thema Freundschaft auseinander. Was genau macht eine echte Freundschaft aus? Was bedeuten uns Freunde in unsicheren Zeiten? Wie weit würden wir in Zeiten von Krisen und Kriegen für einen Freund oder eine Freundin gehen? Während des literarischen Herbstes begegneten sich die Autorinnen zum ersten Mal persönlich. Im Februar trafen sie sich in Amsterdam und Antwerpen und im März treten sie gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse auf. Und bis dahin? Schreiben sie sich und werden vielleicht – hoffentlich – Freundinnen.

Linn Penelope Rieger © Johannes Rieger

Linn Penelope Rieger © Johannes Rieger