Freundschaftsprojekt #7.2

Liebe Aya!

Marlen Hobrack © Michael Bader

Lesen Sie zuerst diesen Brief von Aya an Marlen. 

Der Antwortbrief der Leipziger Schriftstellerin Marlen Hobrack an ihre flämische Brieffreundin Aya Sabi:

 

Liebe Aya,

was für eine wundervolle Geschichte von deinem Mann – manchmal sind die Dinge, wie wir schön oder angenehm finden, eben nicht die Dinge, die praktisch und angemessen sind. Vielleicht hat er schlicht nicht mit dem matschigen Untergrund gerechnet!

Es kommt bestimmt nicht von ungefähr, dass wir beide gern laufen und wandern und Städte oder Naturräume durchstreifen. Hast du zufällig das Buch Wanderlust von Rebecca Solnit gelesen? Darin geht es um die Verbindung zwischen Denken und Laufen. Es ist ein Essay, der von vielen berühmten „wandernden“ Denkern erzählt – etwa Thomas Hobbes oder Ludwig Wittgenstein -; es spürt aber auch der physischen Verbindung von Denken und Laufen nach. Wer läuft oder wandert, der bewegt sich in einem bestimmten Rhythmus. Was macht das mit dem Gehirn? Es braucht feuernde Neuronen, die unsere Beine steuern; aber die sich bewegenden Beine bewirken etwas im Gehirn, sie schaffen eine Rückkoppelung. Eine innere Unruhe etwa kann man durch nervöses Beinwippen oder Wandern ausagieren. Ebenso wichtig mag sein, dass man beim Wandern und Laufen fortwährend Reize aufnimmt, bewusst oder unbewusst. Man riecht und hört und sieht Dinge. Man füttert sozusagen das Gehirn. Denkblockaden lösen sich.

Im letzten Jahr plagten mich ständig „fixe“ Ideen und Gedanken. Ich hatte immer einen Hang dazu, aber die Trauer schien das Problem zu verstärken. Ich versteifte mich auf bestimmte negative Gedanken, war innerlich so angespannt, dass ich förmlich versteinerte. Was mir half, war schnurstracks zu meinem Garten zu laufen (er ist 15 Gehminuten von meiner Wohnung entfernt) und im Garten zu werkeln. Ich musste mich bewegen, davonlaufen, und möglichst anstrengende Tätigkeiten verrichten.

Inzwischen geht es mir viel besser. Übrigens habe ich das Wochenende in Amsterdam und Antwerpen sehr genossen. Dass wir intellektuell anregende Gespräche führen und gleichermaßen viel lachen und scherzen konnten, war wunderbar.

Dass du dich mit dem Thema des intergenerationellen Traumas beschäftigst, fasziniert mich sehr. Es ist ein Thema, das mich ebenso interessiert. Die meisten Menschen würden beim Thema Trauma und „Traumatherapie“ eher an Gespräche denken; tatsächlich erscheint mir das Kochen als ein großartiger Ansatz: Kochen und Essen sind soziale Praktiken, bei denen es nie nur um Ernährung geht. Wir alle kennen schließlich die Bedeutung von „soul food“. Im Deutschen sagt man „Liebe geht durch den Magen“. Kochen ist Emotion und Kommunikation.

Dazu passt, dass ich in meinem Leben stets Männer hatte, die das Kochen liebten und mich gut bekochten. Heute tut das mein Mann, früher tat das mein Vater.

Apropos Vater: Dass die bildende Künstlerin eine Vater-Wunde, die Autorin eine Mutter-Wunde hat, das scheint mir eine spannende Idee zu sein. Ich fühle mich etwas ertappt. Mein Psychoanalytiker könnte dir vermutlich viel dazu erzählen!

Was das Talent angeht, so sehe ich es ähnlich wie du: Es heißt ja, man müsse etwas zehntausend Stunden lang üben, um es sehr gut zu beherrschen. Ich kenne keine Disziplin – ob nun das Klavierspielen oder Karate – bei der man einfach so über Nacht zur Meisterin würde. Was Menschen mit Talent meinen, ist oft zunächst einmal ein Interesse, das schon früh im Leben eines Menschen auftritt. Meiner Meinung nach hat solch ein Interesse viel mit der Persönlichkeit zu tun: Ich war ein sehr scheues Kind, hatte kaum Freunde, ging selten raus. Kein Wunder, dass ich nicht gut in Sport war. Viel reizvoller fand ich das Malen und Zeichnen, bei dem ich mit mir allein sein konnte. Oder das Lesen und Schreiben. Als Teenagerin spielte ich ebenso gerne Gitarre und sang. Ich hätte gerne eine Band gehabt, bis mir klar wurde, dass ich dafür tatsächlich Freunde hätte finden müssen! Also malte und schrieb ich lieber.

Diese Vorlieben haben womöglich damit zu tun, dass mein Gehirn Muster liebt. Ich liebe es, Muster zu erkennen und aufzuspüren. Vielleicht mag ich deswegen Schach. Ich lerne keine Partien auswendig, aber traditionelle Eröffnungen beherrsche ich gut. Mein älterer Sohn schlägt mich inzwischen allerdings ziemlich oft. Er hat ein „natürliches“ Talent fürs Schach und ist noch besser in Mustererkennung und dem Vorausplanen von Zügen als ich.

Insofern gibt es womöglich doch so etwas wie ein „ererbtes“ Talent, das schon ganz früh zum Tragen kommt. Vor einer Weile sah ich Kinderzeichnungen Picassos in einem Museum. Er hatte sie im Alter von vier Jahren angefertigt und sie waren absolut brillant! Sein Vater war Maler, natürlich wird er von Anfang an seinen Vater beim Arbeiten beobachtet und ihm nachgeeifert haben. Aber mit vier Jahren konnte er doch unmöglich zehntausend Stunden trainiert haben!

Und ebenso interessant: Auch meine Schwester ist eine sehr gute Zeichnerin und handwerklich ebenso begabt. Mein Vater war ebenso kreativ und handwerklich begabt – nur hat er nie mit meiner Schwester oder mir gemalt oder gebastelt. Wir haben es also nicht von ihm gelernt, aber womöglich eine gewisse Begabung von ihm geerbt. Wer weiß!

Um noch einmal auf das Gefühl der Dringlichkeit beim Schreiben zurück zu kommen: Seit meinem letzten Brief hat sich dieses Gefühl etwas gelegt. Ich spüre keinen so starken Druck mehr; tatsächlich überwiegt die Freude am Schreiben, Lesen, Nachdenken und Kreieren. In den letzten Tagen habe ich wieder extrem viel gelesen, ich spüre eine große Neugierde auf neue Themen. Ich kann wieder darauf vertrauen, dass sich Dinge ergeben werden und dass ich mir Zeit für mich nehmen darf.

Ich hoffe, du gönnst dir die Zeit. Ich hoffe ebenso, dass du dir selbst das Vertrauen in deine Arbeit schenkst. Du hast es dir verdient.

Ich freue mich sehr darauf, dich in Leipzig wiedersehen zu können.

 

Alles Liebe

Marlen

 

 

Unter dem Titel „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“ setzen sich die sechs Autorinnen Aya Sabi, Marlen Hobrack, Nadia de Vries, Linn Penelope Rieger, Sholeh Rezazadeh und Kaśka Bryla aus den Niederlanden, Flandern und Leipzig mit dem Thema Freundschaft auseinander. Was genau macht eine echte Freundschaft aus? Was bedeuten uns Freunde in unsicheren Zeiten? Wie weit würden wir in Zeiten von Krisen und Kriegen für einen Freund oder eine Freundin gehen? Während des literarischen Herbstes begegneten sich die Autorinnen zum ersten Mal persönlich. Im Februar trafen sie sich in Amsterdam und Antwerpen und im März traten sie zum Abschluss des Projekts gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse auf. In der Zwischenzeit schrieben sie sich Briefe und tauschten sich über Freundschaft und Literatur aber auch über ihren Alltag und ihre Schriftstellerinnenkarriere aus. Und vielleicht – hoffentlich – sind sie ganz nebenbei Freundinnen geworden.

Marlen Hobrack © Michael Bader