Freundschaftsprojekt #4.1

Liebe Marlen!

Aya Sabi © Annemiek Mommers

Ein weiterer Brief der flämischen Schriftstellerin Aya Sabi an ihre Leipziger Brieffreundin Marlen Hobrack: 

 

Liebe Marlen,

zuallererst möchte ich mich für diese sehr lange Stille entschuldigen. Dass ich so lange nichts von mir habe hören lassen, bedeutet aber nicht, dass ich nicht an dich gedacht habe. Im Gegenteil. Ich habe oft an unser Treffen und unser langes Gespräch in dem Café zurückgedacht, bei dem auch Nadia dabei war. 

Eine Woche später bin ich in den Urlaub in die Türkei geflogen und wollte dir dort einen Stein kaufen, weil du erwähnt hattest, dass Steine dich faszinieren. Das habe ich dann doch nicht getan, weil die leise Stimme, die mir ständig Horrorszenarien in meinen Kopf schreibt, schrieb, dass ich vom Zoll aufgegriffen werden könnte, weil ich etwas Wertvolles aus dem Land geschmuggelt hätte. 

Das klingt skurril, aber es ist wirklich jemandem passiert. Eine flämische Touristin wollte vor einiger Zeit ein Souvenir aus der Türkei mitbringen und wurde festgenommen. Sie behauptete, den Stein einfach vom Boden genommen zu haben, aber die Zollbeamten mutmaßten, sie könnte ihn bei einer historischen Ausgrabungsstätte gefunden haben. Sie meinten, der Stein sei ein Kulturgut. Ich weiß nicht, wer schließlich Recht bekam, aber ich wollte das Risiko nicht eingehen. So ein Prozess dauert lange.  

Ich habe in deinem Buch geblättert, das du mir geschenkt hast. Ich finde es schade, dass ich es nicht ohne Übersetzung lesen kann, aber irgendwie verleiht das deinem Werk auch etwas Mystisches, das es noch wertvoller macht. Ich kenne nur das von dir, was du selbst über dich preisgibst. Du hast mir erzählt, dass du über Mutterschaft schreibst und es auffällig findest, dass diese eine Quelle der Tristesse sein kann, sogar wenn sie eine freie Entscheidung ist. 

Das kann ich gut nachvollziehen. Ich denke, es hat damit zu tun, dass wir Mutterschaft vielleicht niemals wirklich wählen können und sie darum auch niemals frei ist. Egal, wie lange wir rational nachdenken und/oder intuitiv unserem Instinkt folgen, um eine wohlüberlegte Entscheidung zu treffen – sind wir jemals wirklich vorbereitet? Wir wissen nicht, wie es sein wird, bis wir uns dafür entscheiden. Es ist so tiefgreifend, dass es sich wie ein Riss durch unser Leben zieht. Mutterschaft tust du nicht, Mutterschaft bist du. Sie ist keine Entscheidung, die wir jederzeit wieder rückgängig machen können, sondern etwas Dauerhaftes, das uns verändert. Im Voraus wissen wir nicht, welchen Einfluss sie auf uns hat: Jedes Kind ist anders. 

Ich weiß nicht, wie viel Wert du den obigen Ausführungen beimessen solltest, denn ich weiß natürlich absolut nichts über dieses Thema. Selbst bin ich keine Mutter. Ich habe aber eine Mutter und denke viel über Mutterschaft nach. Ich habe gern  Kontrolle und darum habe ich schon oft rational darüber nachgedacht, ob Mutter sein etwas für mich wäre und bin jedes Mal zu dem Ergebnis gekommen, dass es keine gute Idee ist, haha. 

Vor Kurzem war ich mit einer Freundin etwas trinken. Sie ist auch Mutter, völlig unverhofft, kurz vor ihrer Schwangerschaft hatte sie sogar die Entscheidung getroffen, keine Kinder zu bekommen. Dann erfuhr sie, dass sie schwanger war und behielt das Kind. Sie erzählte, dass das Mutter sein sie dazu gebracht hat, alle Kontrolle loszulassen, sie weniger Ängste hatte, konzentrierter arbeiten konnte, weil sie wusste, dass sie die Momente, in denen das Baby schlief, nutzen musste, es sie geradezu geerdet hatte. Sie konnte sich ganz und gar auf die Spiele, die ihr Kleinkind sich ausdachte, einlassen. Sich voll und ganz im Moment verlieren: das Hier und Jetzt. Da klang Mutterschaft für mich doch reizvoll. 

Ich finde es interessant, zu lesen, dass du Mutterschaft mit Schreiberschaft verbindest, denn ich mache es genau andersherum. Schreiben ist für mich eine einsame Tätigkeit, bei der ein Familienleben nur ablenkt. Das stimmt natürlich auch nicht, aber es gibt viele Dinge, die wir als selbstverständlich wahrnehmen, obwohl sie eigentlich jeglicher Grundlage entbehren.

Wie geht es dir? Wie geht es deiner Trauer? Ich trenne gern beides. Du bist du und deine Trauer ist, was du trägst und niederlegst, die mit der Zeit kleiner wird und dich manchmal überwältigt. Es ist gut, dass du weißt, was du in solchen Momenten tust, dass du dann still bist und dass die Stille sein darf, wie eine tröstende, tragende, heilende Stille. Es ist gut zu wissen, was wir brauchen. Es ist gut, dem sich wiederholenden Schmerz in uns Zeit und Raum zu geben – dem fallenden und steigenden, sich verändernden Schmerz, solange wir nur nicht selbst zum Schmerz werden. Solange wir ihn nur bewusst wahrnehmen. 

Ich möchte dir den Mut wünschen, selbst zu bestimmen, wie (viel) du tragen möchtest. Ich wünsche dir Kraft. Heilung. Auf Arabisch sagen wir: „Möge sich die Liebe, die du für deine Mutter empfunden hast, in Geduld verwandeln, um diesen Verlust zu ertragen.“ Ich wünsche dir, dass du genug von allem hast, was du brauchst. Sei dir bewusst, dass du mir nie zu viel erzählst. 

 

Alles Liebe

Aya 

 

Aus dem Niederländischen übersetzt von Hanna Otte.

 

 

Neugierig, wie es weitergeht? Den Antwortbrief von Marlen an Aya gibt es hier.

 

Unter dem Titel „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“ setzen sich die sechs Autorinnen Aya Sabi, Marlen Hobrack, Nadia de Vries, Linn Penelope Rieger, Sholeh Rezazadeh und Kaśka Bryla aus den Niederlanden, Flandern und Leipzig mit dem Thema Freundschaft auseinander. Was genau macht eine echte Freundschaft aus? Was bedeuten uns Freunde in unsicheren Zeiten? Wie weit würden wir in Zeiten von Krisen und Kriegen für einen Freund oder eine Freundin gehen? Während des literarischen Herbstes begegneten sich die Autorinnen zum ersten Mal persönlich. Im Februar trafen sie sich in Amsterdam und Antwerpen und im März treten sie gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse auf. Und bis dahin? Schreiben sie sich und werden vielleicht – hoffentlich – Freundinnen.

Aya Sabi © Annemiek Mommers