Lesen Sie zuerst diesen Brief von Linn an Nadia.
Der Antwortbrief der niederländischen Schriftstellerin Nadia de Vries an ihre Leipziger Brieffreundin Linn Penelope Rieger:
Liebe Linn,
als ich deinen Brief öffnete, war ich sofort von deiner schönen Handschrift beeindruckt. Ich habe meinen Namen noch nie in einer so eleganten Schrift gesehen! Meine eigene Handschrift ist grauenvoll. Seit meinem siebten Lebensjahr bin ich online und habe nie gelernt, anständig von Hand zu schreiben. Darum habe ich meinen Brief für dich abgetippt – Ich wollte nicht riskieren, dir unleserliches Gekritzel zu schicken.
Apropos online sein: Meine ersten Freundschaften habe ich über das Internet geschlossen. In gewisser Weise waren es auch Brieffreundschaften, all unsere Gespräche fanden schriftlich statt: als Nachrichten, die wir auf unseren Bildschirmen hin und her schickten. Ich hatte nie einen Brieffreund oder eine Brieffreundin im wörtlichen Sinn. Trotzdem erinnere ich mich, dass ich einmal einen Brief von zwei Mädchen bekommen habe, die ich im Urlaub kennengelernt hatte. Sie waren Schwestern und ich erinnere mich nur noch daran, dass sie Frisisch sprachen – eine Sprache, die ich selbst weder sprach noch verstand. Ich fühlte mich immer ein wenig ausgeschlossen, wenn sie vom Niederländischen ins Friesische wechselten. Es war ihre gemeinsame Sprache, die sie immer dann sprachen, wenn sie sich gegenseitig ein Geheimnis anvertrauten.
Für mich persönlich ist Englisch eine Geheimsprache. In dem niederländischen Arbeiterviertel, in dem ich aufgewachsen bin, war ich das einzige Kind, das Englisch verstand. Es fühlte sich wie eine Superkraft an, wenn ich mit meinen Freund:innen Sitcoms schaute oder Popmusik hörte – ich war ihre allwissende Übersetzerin. Ich lernte schon früh auf Englisch zu schreiben, erst danach auf Niederländisch, aber ich habe es nicht richtig gesprochen bis ich siebzehn war – darum hat mein Akzent einen westgermanischen Beiklang. Im Niederländischen bin ich ein schüchterner Mensch, vielleicht von Natur aus, aber ich fühle mich erstaunlich selbstbewusst, wenn ich Englisch spreche. Ich denke, dass dieses Selbstvertrauen mich auch zu meinen ersten literarischen Werken ermutigte, die ich
alle auf Englisch geschrieben habe. Mittlerweile fühle ich mich auch im Niederländischen selbstsicher, aber es hat einige Jahre gedauert, bis ich soweit war.
Das erinnert mich daran, dass ich dir ein paar grundlegende Dinge über mich erzählen sollte. Ich bin 32 Jahre alt und lebe zusammen mit meiner Katze Latte in einer kleinen Wohnung in Amsterdam. Die Katze ist noch ganz neu – ich habe sie im letzten Monat aus einem Tierheim adoptiert. Obwohl ich Katzen liebe, sind Möwen meine Lieblingstiere. Ich bin nicht in Amsterdam, sondern etwa zwanzig Minuten östlich, an der Nordseeküste, geboren. Ich wuchs mit Möwen um mich herum auf und immer wenn ich draußen war und etwas zu essen dabei hatte, musste ich aufpassen, dass die Möwen es mir nicht klauten. Das sind furchtbar unhöfliche Tiere. Aber als schüchterner Mensch bewundere ich sie dafür, denn manchmal wünsche ich mir, ich wäre ein bisschen mehr wie sie – durchsetzungsfähiger und mehr auf meine eigenen Bedürfnisse bedacht.
Linn, ich bin neugierig, worin für dich der Unterschied zwischen geschriebener und gesprochener Sprache liegt. Du bist Autorin und Redakteurin, machst aber auch Podcasts. Obwohl sich sowohl in Büchern als auch in Gesprächen alles um Sprache dreht, haben sie einen sehr unterschiedlichen Zugang zu Sprache. Oder stimmt das eigentlich gar nicht? Hattest du jemals eine Live-Konversation mit jemandem, die sich zutiefst literarisch anfühlte? Ich frage mich, wie du in deinem Arbeits- und Privatleben zwischen geschriebener und gesprochener Sprache navigierst. Und ob du das Gefühl hast, auf Papier ein anderer Mensch zu sein, als in Gesellschaft anderer. Verändert sich dein Deutsch, je nachdem, welches Medium du benutzt? Und gibt es etwas, von dem du das Gefühl hast, es in einer anderen Sprache nicht ganz ausdrücken zu können, ein Teil deiner Persönlichkeit, der wortwörtlich lost in translation ist?
Ich freue mich auf deinen nächsten Brief und unser Treffen in Leipzig im nächsten Monat!
Herzliche Grüße aus Amsterdam
Nadia
Amsterdam, 04.09.2023
Aus dem Niederländischen übersetzt von Hanna Otte.
Unter dem Titel „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“ setzen sich die sechs Autorinnen Aya Sabi, Marlen Hobrack, Nadia de Vries, Linn Penelope Rieger, Sholeh Rezazadeh und Kaśka Bryla aus den Niederlanden, Flandern und Leipzig mit dem Thema Freundschaft auseinander. Was genau macht eine echte Freundschaft aus? Was bedeuten uns Freunde in unsicheren Zeiten? Wie weit würden wir in Zeiten von Krisen und Kriegen für einen Freund oder eine Freundin gehen? Während des literarischen Herbstes begegneten sich die Autorinnen zum ersten Mal persönlich. Im Februar werden sie sich in Rotterdam und Antwerpen wiedertreffen und im März gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse auftreten. Und bis dahin? Schreiben sie sich und werden vielleicht – hoffentlich – Freundinnen.