Der erste Brief der Leipzigerin Linn Penelope Rieger an ihre niederländische Brieffreundin Nadia de Vries:
Liebe Nadia,
Als Kind hatte ich viele Brieffreunde und schrieb auch mit Familie und Freunden, die weiter weg wohnten, regelmäßig Briefe. Ich erinnere mich an Kseniya aus Weißrussland, einen Jungen aus Sri Lanka. Beide schickten Fotos von sich, aus Sri Lanka kamen Aufnahmen eines Kindes mit etwas in der Hand, das aussah wie ein Maschinengewehr. Ich habe mit diesem Jungen einmal telefoniert, mit meinem ersten Handy, mitten in der Nacht. Aber weil ich mich scheue, Englisch zu sprechen, wurde meine Aufregung mit jedem Wort größer. Kurz nach der Begrüßung schon wurde die Verbindung so schlecht, dass ich kaum etwas verstand. Und ich rief nur »Ich verstehe dich, ich verstehe dich«, weil ich in meiner Aufregung vergaß, meine Rufe zu verneinen. Am Ende der Leitung glaubte ich das Lachen von mehreren Personen zu hören. Wir schrieben uns dann nicht mehr und als ich von zuhause auszog schmiss ich die Briefe aller in den Abfall. Es war nie auf etwas Tiefgreifendes hinausgelaufen, ich erinnere mich bis heute nicht daran, über was wir uns austauschten. Moment, mir fällt ein, es gab mal einen Freund, einen Künstler, mit dem schrieb ich lange Briefe in meinen Zwanzigern. Wir wollten ein Projekt starten und uns in unseren Briefen über ein Kunstwerk austauschen, dass es nie gegeben hatte. Wir haben diese Idee nie umgesetzt. Aber diese Briefe habe ich behalten.
Ich weiß nicht wie es dir geht, aber für mich war die Verheißung dieser Adressen und Namen, die ich aus Zeitungsannoncen oder Kinderzeitschriften abschrieb, unendlich. Jedes Mal dachte ich, dass sich einer dieser fremden Menschen nun aber wirklich als Seelenverwandter herausstellen würde. Einer, dem ich alles erzählen könnte, und dem ich nie begegnen müsste. Bis heute stelle ich mir die reinste Beziehung als eine in Briefen vor. Jedes wütende Wort verfliegt schon auf dem Weg zum Briefkasten und wird nie abgeschickt. Briefe, die keine Lieferscheine oder Rechnungen enthalten, sind fast wie Mammuts, oder? Fast ausgestorben, unpraktisch, sie gehen verloren und setzen eine Menge Material voraus. Und in meinem Fall führen sie sich sogar ad absurdum, sowie der Mammut-Vergleich: ich habe diesen Brief zunächst am Computer geschrieben, ihn dann online übersetzen lassen, die Übersetzung auf das Briefpapier übertragen. Und ich frage mich, was der Übersetzung fehlt. Ob sie einen anderen Eindruck vermittelt, als die Worte, die ich im Deutschen sorgfältig gewählt habe. Im Englischen habe ich sie zweifelnd akzeptiert. Du schreibst in mehreren Sprachen, richtig? Schreib mir doch davon, es ist ein bisschen wie Zauberei für mich.
Damals habe ich meine Briefe immer ähnlich begonnen: Hallo, mein Name ist Linn, ich bin 12 Jahre alt und lebe mit meiner Mama, meiner Schwester und meinem Stiefpapa in Ilmenau. Dann habe ich vielleicht geschrieben, was ich gerne mache, oder was ich werden will. Aber daran erinnere ich mich nicht. Also beginne ich so: Hallo, mein Name ist Linn, ich bin 31 Jahre alt und lebe mit meinem Mann und meinem Sohn in Leipzig. Ich schreibe an meinem zweiten Buch, moderiere Lesungen, leite Seminare, gebe das Literaturmagazin Edit heraus und veröffentliche zwei Mal im Monat einen Literaturpodcast. Meine Lieblingstiere sind Katzen, und Gottesanbeterinnen, Geparden, Schleiereulen. Ich freue mich darauf, dich kennenzulernen.
Deine
Linn
Neugierig, wie es weitergeht? Den Antwortbrief von Nadia an Linn gibt es hier.
Unter dem Titel „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“ setzen sich die sechs Autorinnen Aya Sabi, Marlen Hobrack, Nadia de Vries, Linn Penelope Rieger, Sholeh Rezazadeh und Kaśka Bryla aus den Niederlanden, Flandern und Leipzig mit dem Thema Freundschaft auseinander. Was genau macht eine echte Freundschaft aus? Was bedeuten uns Freunde in unsicheren Zeiten? Wie weit würden wir in Zeiten von Krisen und Kriegen für einen Freund oder eine Freundin gehen? Während des literarischen Herbstes begegneten sich die Autorinnen zum ersten Mal persönlich. Im Februar werden sie sich in Rotterdam und Antwerpen wiedertreffen und im März gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse auftreten. Und bis dahin? Schreiben sie sich und werden vielleicht – hoffentlich – Freundinnen.