Freundschaftsprojekt #9.2

Liebe Kaśka!

Sholeh Rezazadeh © Afra Asiabi

Lesen Sie zuerst diesen Brief von Kaśka an Sholeh. 

Der Antwortbrief der niederländischen Schriftstellerin Sholeh Rezazadeh an ihre Leipziger Brieffreundin Kaśka Bryla:

 

Liebe Kaśka,

dies ist mein siebter und vorläufig letzter Brief an dich. 

Ein paar Mal haben wir miteinander gesprochen und ein halbes Jahr lang haben wir monatlich unsere Gedanken, Briefe und viele Worte über unseren Alltag, unsere Träume, Ängste und Erinnerungen ausgetauscht. Wir haben einen Herbst und einen Winter miteinander verbracht. 

Aber ich bin dir noch nicht begegnet. Ich weiß nicht, wie du riechst, wie sich deine Augen und dein Blick verändern, wenn du etwas absurd oder unsinnig findest. Ich weiß nicht, was du gerne nascht, wenn du allem entwischen möchtest. Ich weiß nicht, ob du größer bist als ich, ob du einen guten Stift oder einen Bleistift bevorzugst, welchem Notizbuch du deine Gedanken anvertraust und wie deine Hände aussehen, wenn sie ruhen oder lebhaft gestikulieren. Ich weiß nicht, ob du einen Regenschirm benutzt, wenn es regnet, ob du eine Sonnenbrille trägst, um deine Augen vor der Sonne zu schützen, und eine Mütze, wenn es stürmt. Oder nimmst du Regen, Sonne und Wind einfach in all ihrer rauen Schönheit an und umarmst sie? 

Ich habe keine Ahnung, wie du isst, ob du jeden Bissen genießt, langsam und geduldig oder eher hastig und begierig. Ich weiß nicht, was deine Aufmerksamkeit erregt, wenn wir zusammen die Straße entlanggehen, und in welchen Momenten dein Blick für ein paar Sekunden auf etwas verweilt, das nur dir auffällt. Ich weiß nicht, welche Energie ich spüre, wenn ich mit dir zusammen bin, macht sie mich ruhig oder eher unruhig?

Und doch werde ich unweigerlich an dich denken. Ich werde an dich denken, wenn ich eine Krähe sehe, schwarz, klug und geheimnisvoll. Oder einen Schäferhund, der unerwartet freundlich ist. Wenn ich Smalltalk vermeide und mich nach tiefgründigen Gesprächen sehne, sogar mit Fremden. Wenn ich etwas über Österreich höre. Wenn ich zu Hause anfange zu tanzen und mich dann frage, ob du das auch noch immer machst. Und wenn ich krank werde und tagelang im Bett bleiben muss, werde ich an dich denken. 

Siehst du, mit all diesen Briefen und Worten haben wir Brücken gebaut, fragil und doch robust. Hoffentlich werden wir diese Brücken betreten, uns treffen und uns besser kennenlernen. In anderen, besseren Zeiten. 

Am ersten Frühlingstag werde ich in Leipzig diesen letzten Brief vorlesen, in deiner Abwesenheit. 

 

Kümmere dich gut um dich und genieße den nahenden Frühling. 

Sholeh

10. März 2024

 

Aus dem Niederländischen übersetzt von Hanna Otte.

 

 

Unter dem Titel „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“ setzen sich die sechs Autorinnen Aya Sabi, Marlen Hobrack, Nadia de Vries, Linn Penelope Rieger, Sholeh Rezazadeh und Kaśka Bryla aus den Niederlanden, Flandern und Leipzig mit dem Thema Freundschaft auseinander. Was genau macht eine echte Freundschaft aus? Was bedeuten uns Freunde in unsicheren Zeiten? Wie weit würden wir in Zeiten von Krisen und Kriegen für einen Freund oder eine Freundin gehen? Während des literarischen Herbstes begegneten sich die Autorinnen zum ersten Mal persönlich. Im Februar trafen sie sich in Amsterdam und Antwerpen und im März traten sie zum Abschluss des Projekts gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse auf. In der Zwischenzeit schrieben sie sich Briefe und tauschten sich über Freundschaft und Literatur aber auch über ihren Alltag und ihre Schriftstellerinnenkarriere aus. Und vielleicht – hoffentlich – sind sie ganz nebenbei Freundinnen geworden.

Sholeh Rezazadeh © Afra Asiabi