Freundschaftsprojekt #9.1

Liebe Sholeh!

Kaska Bryla © Carolin Krahl

Der vorläufig letzte Brief der Leipziger Schriftstellerin Kaśka Bryla an ihre niederländische Brieffreundin Sholeh Rezazadeh:

 

Liebe Sholeh,

unglaublich, dass dies tatsächlich unsere letzten Briefe sind.

Ich fand es spannend in deinem zu lesen, wie viele Kleinigkeiten dir eingefallen sind, die du nicht über mich wissen kannst, ohne mich persönlich getroffen zu haben. Ich wäre nie auf eine so lange Liste gekommen oder überhaupt auf die Idee, sie zu verfassen.

Unser letzter Zoom am 8ten März hat mich noch länger beschäftigt. Wir sprachen darüber, das Thema Freundschaft vom Anfang unserer Korrespondenz wieder aufzugreifen und ich meinte, dass es für mich während meiner langen Krankheitsphase von September 2023 bis jetzt zusätzlich an Bedeutung gewonnen hat. Es dauerte nicht lange, bis mir die meisten Freundinnen und Freunde wegfielen und sich bald nur noch wenige regelmäßig nach mir erkundigten, bis schließlich meine Mutter kam, um mich zu unterstützen. Im Grunde wissen wir ja, dass es so ist, aber erst wenn wir Wissen im Körper spüren, verstehen wir wirklich.

Du hast mich gefragt, ob ich sagen würde, dass im Zuge dessen meine Mutter zu meiner Freundin geworden ist. Ich gebe zu, dass ich nie darüber nachgedacht habe, würde es aber spontan bejahen. In gewisser Weise sind wir Freundinnen geworden, besonders abends, wenn wir uns dem Tanzen widmen, das als Turnübung begonnen hat, inzwischen zur Tagesfreude Nummer 1 wurde und an dem wir seit über drei Monaten festhalten. Trotzdem bleiben wir natürlich in vielerlei Hinsicht Mutter und Tochter, mit all unserer Vergangenheit und auch ihrem Elend.

Aber es gibt ja unterschiedliche Arten von Freundschaften und nicht jede ist dafür geeignet, sich umeinander zu kümmern. Manche dienen nur dem Austausch im Alltag oder Kolleginnen-Freundschaften, die für die gegenseitige Unterstützung während eines Schreibprozesses herhalten. Daraus ergibt sich die Frage, ob wir, lediglich durch das Schreiben von Briefen, ohne uns, außer im Zoom, jemals begegnet zu sein, Freundinnen werden könnten. Deinem Brief nach zu urteilen, scheint so etwas nicht möglich. Nicht wenn eine weder den Geruch noch die Gestik oder Mimik der anderen erfährt. Ich wiederum würde meinen, das sei möglich, in Abhängigkeit der Erwartungen, die ich an eine solche Freundschaft knüpfe, aber ich glaube, würden wir uns weiter monatlich einen Brief schreiben und das über mehrere Jahre, würden wir uns ziemlich gut kennenlernen, wenn auch ganz anders.

Heute Früh habe ich nochmals alle unsere Briefe gelesen und es entfuhr mir ein Lächeln. Ich erinnerte mich an deine Beschreibung der Feier des 21sten Dezember mit Granatäpfeln und Lyrik und, dass ich diesen Brauch übernehmen möchte, ihn in diesem Jahr meiner Familie und Freund*innen vorschlagen will. Und zum zweiten Mal berührte mich beim Lesen die Geschichte der Frau, die zu deiner Lesung kam und die Kleider ihrer verstorbenen Tochter anhatte, die den Freitod gewählt hatte und für die sie bei Lesungen Bücher signieren lässt.

Diese Episoden aus deinem Leben werden bei mir bleiben zusammen mit den Erinnerungen an unsere Gespräche, die im Sommer zu Beginn meiner Erkrankung einsetzten und mich über die Monate begleitet haben, während sich meine Symptome veränderten und dein zweites Buch erschien, dessen Erfolg ich gespannt auf Instagram und Facebook verfolgte. Ich freue mich sehr dich kennengelernt zu haben.

Uns beiden wünsche ich, dass der Rest dieses Jahres viel Erfüllung bringt und wir einander vielleicht doch noch analog treffen.

 

Das Allerbeste!

Kaśka

9. März 2024

 

Neugierig, wie es weitergeht? Den Antwortbrief von Sholeh an Kaśka gibt es hier.

 

Unter dem Titel „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“ setzen sich die sechs Autorinnen Aya Sabi, Marlen Hobrack, Nadia de Vries, Linn Penelope Rieger, Sholeh Rezazadeh und Kaśka Bryla aus den Niederlanden, Flandern und Leipzig mit dem Thema Freundschaft auseinander. Was genau macht eine echte Freundschaft aus? Was bedeuten uns Freunde in unsicheren Zeiten? Wie weit würden wir in Zeiten von Krisen und Kriegen für einen Freund oder eine Freundin gehen? Während des literarischen Herbstes begegneten sich die Autorinnen zum ersten Mal persönlich. Im Februar trafen sie sich in Amsterdam und Antwerpen und im März traten sie zum Abschluss des Projekts gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse auf. In der Zwischenzeit schrieben sie sich Briefe und tauschten sich über Freundschaft und Literatur aber auch über ihren Alltag und ihre Schriftstellerinnenkarriere aus. Und vielleicht – hoffentlich – sind sie ganz nebenbei Freundinnen geworden.

Kaska Bryla © Carolin Krahl