Freundschaftsprojekt #6.2

Liebe Kaśka!

Sholeh Rezazadeh © Afra Asiabi

Lesen Sie zuerst diesen Brief von Kaśka an Sholeh. 

Der Antwortbrief der niederländischen Schriftstellerin Sholeh Rezazadeh an ihre Leipziger Brieffreundin Kaśka Bryla:

 

Liebe Kaśka,

es tut mir unglaublich leid, dass du noch immer mit diesen Bakterien zu kämpfen hast und wenig Zeit und Energie in deinen neuen Roman stecken kannst. Ich kann mir vorstellen, dass es sehr langweilig und deprimierend ist, die dunklen Herbsttage so verbringen zu müssen. 

Wie du schon sagst, deine Krankheit ist vielleicht nicht mit dem zu vergleichen, was auf der Welt vor sich geht, aber Leid ist Leid. Und was dir weh tut, egal wie groß oder klein es auch ist, ist wichtig und kann dich brechen, quälen und dir schaden. 

Auch für mich ist das eine der schönsten und beruhigendsten Tätigkeiten, wenn ich nicht mehr weiß oder kann, wenn alles zu schmerzhaft, zu kompliziert, zu langsam, zu schnell, zu langweilig oder zu aufregend scheint: Ein Buch in die Hand nehmen und sich in einer anderen Welt verlieren. Eine Welt, die einerseits sehr weit weg zu sein scheint, und doch direkt in deinen Händen liegt. Eine einzigartige Erfahrung: sich verlieren und doch alles unter Kontrolle haben. 

Das ist, was Literatur und Geschichten für uns sein können: ein Versteck, ein Spielplatz, ein Ferienhaus und zwar genau dann, wenn wir es am dringendsten brauchen. Nicht umsonst heißt es, dass die besten Freunde eines Menschen seine Bücher sind. Freunde, die deine Hand halten, wenn du weglaufen oder stehen bleiben willst, wenn du am liebsten unsichtbar wärst oder unbedingt gesehen werden möchtest. Freunde, die dich immer inspirieren und dir gleichzeitig alle Freiheit lassen. Und gibt es etwas Schöneres, als ein Wiedersehen mit alten, zuverlässigen Freunden aus den intensivsten Zeiten deines Lebens, den Teenagerjahren, mit der Gewissheit, dass deine Freunde sich nicht verändert oder verfremdet haben? Nachdem ich deinen Brief gelesen habe, bekam ich auch Lust, ein Buch aus meiner Jugend noch einmal zu lesen. 

Ich hoffe, dass die Seiten dir in dieser herausfordernden Zeit Kraft und Trost spenden.

 

Gute Besserung, viel Freude beim Lesen und Schreiben und hoffentlich bis bald. 

Sholeh

29. November 2023

 

Aus dem Niederländischen übersetzt von Hanna Otte.

 

Unter dem Titel „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“ setzen sich die sechs Autorinnen Aya Sabi, Marlen Hobrack, Nadia de Vries, Linn Penelope Rieger, Sholeh Rezazadeh und Kaśka Bryla aus den Niederlanden, Flandern und Leipzig mit dem Thema Freundschaft auseinander. Was genau macht eine echte Freundschaft aus? Was bedeuten uns Freunde in unsicheren Zeiten? Wie weit würden wir in Zeiten von Krisen und Kriegen für einen Freund oder eine Freundin gehen? Während des literarischen Herbstes begegneten sich die Autorinnen zum ersten Mal persönlich. Im Februar trafen sie sich in Amsterdam und Antwerpen und im März treten sie gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse auf. Und bis dahin? Schreiben sie sich und werden vielleicht – hoffentlich – Freundinnen.

Sholeh Rezazadeh © Afra Asiabi