Ein weiterer Brief der Leipziger Schriftstellerin Kaśka Bryla an ihre niederländische Brieffreundin Sholeh Rezazadeh:
Liebe Sholeh,
der November ist fast zu Ende, die Tage sind so kurz, wie sie nur sein können und ich kämpfe immer noch mit meiner Krankheit. Als wir anfingen zu schreiben, hatte ich einen bakteriellen Infekt und nach vier verschiedenen Antibiotika habe ich noch immer mit dem gleichen Infekt zu tun, allerdings mit anderen Bakterien, denn nach jedem Antibiotikum tauchten neue auf. Deshalb probiere ich seit einem Monat einen pflanzlichen Ansatz, der viel Zeit und Geduld erfordert. Mein Tagesablauf ist so eng getaktet, dass ich, außer zum Einkaufen und für Arzttermine, kaum das Haus verlasse. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich mich zum letzten Mal außerhalb meiner eigenen vier Wände mit jemandem getroffen habe. Das klingt wahrscheinlich deprimierend und ja, das ist es auch. Aber was soll man machen?
Mir fällt es auch schwer, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, den Roman, den ich schreiben wollte und für den ich dieses großzügige Stipendium bekommen habe, von dem ich inzwischen das Gefühl habe, es zu missbrauchen, da ich mich hauptsächlich mit verschiedenen Kräutern und ihrer Wirkung auf verschiedene Bakterien beschäftige. Am Ende eines Tages schaue oder höre ich mir die Nachrichten an und realisiere, wie klein meine Krankheit und meine Probleme verglichen mit dem allgemeinen Zustand der Welt sind, die Kriege, die Tausende von Menschen obdachlos oder in ständiger Angst zurücklassen. Aber die Weltlage lässt meine Bakterien nicht verschwinden. Darum habe ich vor ein paar Tagen beschlossen, eines meiner Lieblingsbücher erneut zu lesen: „Borderliners“ von Peter Høeg. Es ist die Geschichte der Teenager Peter und Katharina. Beide kommen aus sehr unterschiedlichen Verhältnissen (Katharina aus einem gut situierten Elternhaus, Peter ist in verschiedenen Waisenhäusern aufgewachsen) und treffen sich in einer elitären dänischen Schule, wo sie beschließen, gemeinsam herauszufinden, was hinter den in der Schule angewandten Erziehungsmethoden steckt. Der deutsche Titel des Buches ist: „Der Plan von der Abschaffung des Dunkels“ und bezieht sich auf den Plan, den Katharina und Peter aufdecken wollen. Denn sie fragen sich, warum Schüler wie Peter und August (ein Junge, der seine Eltern umgebracht hat), vorbestrafte Waisen, am Schulprogramm teilnehmen dürfen.
Ich schreibe nicht weiter, um nicht zu spoilern. Vielleicht hast du Lust, es zu lesen. Für mich markiert dieses Buch den Beginn eines Widerstandes, der damit anfängt, die gegenwärtigen, von Autoritäten festgesetzten Umstände in Frage zu stellen.
Wie verbringst du die kurzen Tage? Wie beeinflusst die Weltlage deinen Alltag? In jedem Fall hoffe ich, dass es dir gut geht und ich freue mich auf einen neuen Brief von meiner neuen Freundin.
Alles Gute!
Kaśka
24. November, 2023
Aus dem Englischen übersetzt von Hanna Otte.
Neugierig, wie es weitergeht? Den Antwortbrief von Sholeh an Kaśka gibt es hier.
Unter dem Titel „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“ setzen sich die sechs Autorinnen Aya Sabi, Marlen Hobrack, Nadia de Vries, Linn Penelope Rieger, Sholeh Rezazadeh und Kaśka Bryla aus den Niederlanden, Flandern und Leipzig mit dem Thema Freundschaft auseinander. Was genau macht eine echte Freundschaft aus? Was bedeuten uns Freunde in unsicheren Zeiten? Wie weit würden wir in Zeiten von Krisen und Kriegen für einen Freund oder eine Freundin gehen? Während des literarischen Herbstes begegneten sich die Autorinnen zum ersten Mal persönlich. Im Februar trafen sie sich in Amsterdam und Antwerpen und im März treten sie gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse auf. Und bis dahin? Schreiben sie sich und werden vielleicht – hoffentlich – Freundinnen.