Freundschaftsprojekt #7.1

Liebe Marlen!

Aya Sabi © Annemiek Mommers

Der vorläufig letzte Brief der flämischen Schriftstellerin Aya Sabi an ihre Leipziger Brieffreundin Marlen Hobrack:

 

Liebe Marlen, 

wie schön, dass wir neben unserer Liebe für Literatur auch die Liebe für bildende Kunst und Wandern teilen. Während unserer Gespräche mit ‘den Freundinnen’ (herrliches Wort!!) kamen unsere vielen Übereinstimmungen schon zur Sprache, und jetzt frage ich mich, ob es Dinge gibt, die alle Schriftsteller:innen oder sogar alle Künstler:innen gemeinsam haben. Ich mag nämlich auch bildende Kunst, ich wandere gern und am liebsten verirre ich mich planlos in einer neuen Stadt, entdecke eindrucksvolle Gebäude, stelle fest, dass es Museen sind, in denen ich dann neue Künstler:innen kennenlerne. Aber auch ich wandere lieber in der Natur. 

Seit ein paar Monaten wohne ich an einem neuen Ort und wenige hundert Meter von meiner neuen Wohnung entfernt gibt es ein großes Naturschutzgebiet, in dem ich mehrmals die Woche spazieren gehe. Es fasziniert mich, dass es mich dort nie langweilt, jedesmal sieht es anders aus. Vor ein paar Wochen stand das Wasser so hoch, dass alles matschig war. Ich fand es großartig, aber meinem Partner, der seine weißen Schuhe trug, gefiel es weniger gut. Das konnte ich nachvollziehen, er hatte schließlich weiße Schuhe an, aber warum nur hatte er die weißen Schuhe überhaupt angezogen? 

Es fasziniert mich, wie die Landschaft sich verändert, wie die Natur in einem Moment der Unaufmerksamkeit direkt übernimmt. Das letzte Mal waren wir im Soldatenbos wandern. Der Wald heißt so, weil er früher Militärgebiet war und sogar Flugzeuge dort gelandet sein sollen. Von dieser turbulenten Vergangenheit war (zum Glück) nichts zu sehen, die Stille wurde nur von den vielen Singvögeln unterbrochen: Finken, Zilpzalpe und Meisen. Die Kriegsvergangenheit war überwuchert, die Natur hat die Wege wieder in Beschlag genommen, als hätte es dort nie etwas anderes gegeben als wachsende Bäume. 

Zurück zum Schreiben und zur bildenden Kunst, die uns verbindet: Es gibt Leute, die behaupten, dass Schriftsteller:innen an einer Mutterwunde und Künstler:innen an einer Vaterwunde leiden. Oder andersherum. Als ich das hörte, fühlte ich mich ziemlich angegriffen, denn als Kind wollte ich immer malen, aber weil ich so schlecht darin war (ich habe zwei linke Hände), fing ich mit dem Schreiben an. Nach dieser Theorie müsste ich also eine Mutter- und eine Vaterwunde haben, haha! Klingt nicht sehr gesund. In mir steckt eine Malerin und eine Schriftstellerin, nur sind sie nicht gleich gut ausgebildet. 

Glaubst du an Talent? Das ist eine schwierige Frage, finde ich. Ich weiß nicht, ob es so etwas wie Talent gibt, denn ich habe mein ganzes Leben hart daran gearbeitet, aus schlechten Texten gute zu machen. Als ich jung war, schrieb ich schlecht, aber ich wollte schreiben können und ich schrieb gerne: Durch die tägliche Übung wurde ich immer besser. Heute gibt es noch immer erste Versionen meiner Texte, die ich niemanden lesen lasse und die ich dann zu Texten verarbeite, die ich mit der Welt teile. Was denkst du hierüber?

Das erinnert mich an deine Schreibroutine und an diese Bemerkung aus dem Publikum, sie wirke so unkreativ. Ich erkenne das wieder: Während der Arbeit lasse ich immer das gleiche Youtubevideo ‘Creative binaural waves music’ im Hintergrund laufen. Das Video dauert zwei Stunden und danach gönne ich mir eine Pause. Für mich funktioniert das gut, obwohl ich nicht weiß, ob es die Musik ist, die meine Kreativität anregt, oder ob es sich eher um eine pawlowsche Reaktion handelt. Schreiben bedeutet auch hart und viel arbeiten, nicht auf die Muse zu warten, denn die kommt nie. Das erzähle ich auch den Studierenden in meinen Schreibkursen. Würde ich an angeborenes Talent glauben, würde ich niemals Schreiben unterrichten. Ich glaube an das Schreiben als Fach. Wenn man viel schreibt, hat man irgendwann das Glück, ein Fragment zu schreiben, auf dem man aufbauen kann und in dem die Muse sich dann doch offenbart. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber wenn ich an die großen niederländischsprachigen Schriftsteller:innen denke, denke ich an Vielschreiber:innen. 

Die Konsequenz daraus ist, dass man sich trauen muss, schlecht zu schreiben, um gute Literatur daraus zu machen. Manchmal fällt es mir schwer, an meinem Schreibtisch zu sitzen und nicht zu wissen, was die Schreibzeit bringen wird. Daran arbeite ich. Woran ich sonst noch arbeite: an sehr vielen Dingen. Ich habe auch das Gefühl, dass die Zeit knapp ist und ich noch so viel tun muss – dadurch laufe ich Gefahr, unzufrieden mit dem zu sein, was ich gerade tue. Als ich Half Leven abgeschlossen hatte, wusste ich nicht, ob ich die Dringlichkeit verspüren würde, eine weitere Geschichte zu schreiben. Sollte dies das Letzte sein, das ich zu sagen habe? Inzwischen habe ich mindestens fünf Ideen und versuche Zeit zu finden, diese auch auszuarbeiten, aber die Zeit ist knapp, weil ich auch noch studiere und arbeite, versuche, ein Sozialleben aufrechtzuerhalten und meinen Hobbys nachzugehen… Du verstehst das sicher. 

Ich schreibe an einem Theaterstück: eine transdisziplinäre Darbietung in Form einer Kochshow, die die Frage beantwortet, die ich in meinem Buch unbeantwortet gelassen habe: ‘Ist ein Leben genug, um wieder heile zu sein?’ In Half leven ging es um ein generationenübergreifendes Trauma, im Theaterstück geht es um generationenübergreifenden Trost. ‘Heile’ verweist hier gleichzeitig auf Heilung und auf ‘nicht gebrochen sein’. Die Antwort ist: ja (und auch ein bisschen nein). In dem Monolog spiele ich mit Nuancen und Wahrheit und versuche, das Konzept ‘Trauma’ zu entschlüsseln. Was ist die Grundlage eines Traumas? Stress. Wie ist Stress entstanden? Wie gehen wir mit den allgegenwärtigen Stressfaktoren des modernen Lebens um? All dies versucht der Monolog in normale Menschensprache zu übertragen, zum Beispiel: Wenn man gestresst ist, muss man atmen. Es ist ein Versuch, das Leben wieder leicht zu machen. 

Ich möchte die Zweiteilung von rational und irrational (im positiven Sinne) aufgreifen. Über die Fehlkommunikation, die entsteht, weil wir uralte Systeme in uns (Amygdala, Nervensystem) mit Sprache erfassen wollen. 

Außerdem schreibe ich das Skript für ein Musiktheaterstück und beginne mit einem neuen Buch, das schon sehr bald erscheint. Mit anderen Worten: Die Dringlichkeit, die du spürst, spüre ich auch. Was mir sehr dabei hilft, ist die Polyvagal-Theorie. Es gibt eine Menge interessanter Videos dazu auf Youtube: Das Gefühl der Dringlichkeit ist für mich eine Fehlregulierung meines Nervensystems und in diesen Videos, aber auch in Büchern, lerne ich, wie ich mein Nervensystem wieder selbst regulieren kann, als eine Gewohnheit, als ein Weg, sich in der Welt und in seinem Körper wieder sicher zu fühlen. Ich würde gerne mehr sein und weniger tun. 

Dringlichkeit ist auch nicht immer schlecht. Sie zeigt uns, was uns wichtig ist. Wie gut, dass du die verletzendsten und schmerzhaftesten Facetten deines Lebens thematisierst und dadurch auch verarbeitest. Bei mir war es jedenfalls so. Ich hatte keine Vorstellung von generationenübergreifendem Trost, bevor ich mich mit generationenübergreifendem Trauma beschäftigt habe. Irgendwann hatte ich so viel darüber geredet, geschrieben und nachgedacht, dass ich weitermachen wollte, weil ich sah, wie viele Menschen von diesen Themen betroffen sind. Es ist beruhigend zu wissen, dass die Geschichten sich dann doch immer wieder ergeben. 

Das ist wieder der letzte Brief, bevor wir uns in Leipzig zum letzten Mal treffen. Ich hoffe, dass wir den Briefwechsel fortsetzen können. 

Alles Liebe

Aya

 

Aus dem Niederländischen übersetzt von Hanna Otte. 

 

 

Neugierig, wie es weitergeht? Den Antwortbrief von Marlen an Aya gibt es hier.

 

Unter dem Titel „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“ setzen sich die sechs Autorinnen Aya Sabi, Marlen Hobrack, Nadia de Vries, Linn Penelope Rieger, Sholeh Rezazadeh und Kaśka Bryla aus den Niederlanden, Flandern und Leipzig mit dem Thema Freundschaft auseinander. Was genau macht eine echte Freundschaft aus? Was bedeuten uns Freunde in unsicheren Zeiten? Wie weit würden wir in Zeiten von Krisen und Kriegen für einen Freund oder eine Freundin gehen? Während des literarischen Herbstes begegneten sich die Autorinnen zum ersten Mal persönlich. Im Februar trafen sie sich in Amsterdam und Antwerpen und im März traten sie zum Abschluss des Projekts gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse auf. In der Zwischenzeit schrieben sie sich Briefe und tauschten sich über Freundschaft und Literatur aber auch über ihren Alltag und ihre Schriftstellerinnenkarriere aus. Und vielleicht – hoffentlich – sind sie ganz nebenbei Freundinnen geworden.

Aya Sabi © Annemiek Mommers