„Die große Angst ist immer, dass etwas übersetzt klingt“
Im Interview spreche ich mit Ruth Löbner über ihre Übersetzung von Gijs Wilbrinks Debütroman „De beesten“. Der Roman ist in den Niederlanden 2022 erschienen und wurde von der Kritik hoch gelobt. Die deutsche Übersetzung erscheint voraussichtlich am 29. Februar 2024, pünktlich zur Leipziger Buchmesse, unter dem Titel „Tiere“ bei Ullstein.
Die Handlung des Buches spielt in zwei Zeitebenen. In der Jetztzeit besucht Isa ihre Heimat, um ihrer Mutter zu helfen, ihren verschwundenen Vater zu suchen. Die andere Zeitebene befasst sich mit der Vergangenheit von Isas Vater und erzählt von seiner Kindheit und dem Aufwachsen mit seinen beiden Brüdern. Das Ganze fügt sich am Ende sehr harmonisch und dramatisch zusammen. Der erste Satz des Romans zieht die Lesenden direkt in die Geschichte und baut Spannung auf:
Ik wil niet veel zeggen, maar volgens mij ging het al mis met Tom Keller toen die twee oom’s hem ‘s nachts meenamen naar het bos en hem dingen lieten doen die een jongen van negen nog lang niet zou moeten doen.
Ich will ja nichts sagen, aber wenn man mich fragt, dann war es um Tom Keller schon geschehen, als seine beiden Onkel ihn nachts in den Wald mitgeschleppt und ihn da Sachen haben machen lassen, die ein Neunjähriger einfach noch nicht machen darf.
Schon in deiner ersten Mail an mich hast du geschrieben, dass es über den ersten Satz hier viel zu erzählen gibt. Ich bin sehr gespannt.
Vor allem mit diesem ersten Teil, der so unscheinbar daher kommt ‚Ik wil niet veel zeggen‘, habe ich mich unheimlich schwer getan. ‚Ich will nicht viel sagen‘ klingt im Deutschen so merkwürdig und assoziiert zum Beispiel auch ‚vielsagend‘. Ich habe mich jetzt für ‚Ich will ja nichts sagen‘ entschieden. Das ist nah genug dran und liest sich im Deutschen sehr flüssig. Die wörtliche Variante hätte vermutlich total übersetzt geklungen. Und die große Angst ist immer, dass etwas übersetzt klingt. Außerdem zieht sich dieser Satz ‚Ich will nicht viel sagen‘, ‚Ich will nichts sagen‘, ‚Ich will eigentlich nicht darüber sprechen‘ durch das ganze Buch und kommt immer wieder vor, aber das weiß man beim ersten Lesen natürlich noch nicht. Deswegen brauchte ich da eine Lösung, die über das ganze Buch trägt, die aber im ersten Moment auch nicht so irritiert, dass die Lesenden direkt aus dem Text hinaus katapultiert werden. Dieser erste Satz muss die Lesenden hineinziehen. Ich fand es hier echt knifflig, schon auf später zu verweisen, ohne direkt mit einer Stolperfalle anzufangen.
Liest du immer zuerst das ganze Buch? Wusstest du schon, dass dieser Teil öfter vorkommt, als du angefangen hast zu übersetzen?
Ja, ich lese die Bücher immer, bevor ich anfange zu übersetzen. Und dann lese ich sie noch einmal kapitelweise, während ich arbeite. Ich weiß, dass es auch Übersetzer:innen gibt, die sich überraschen lassen, aber das kann ich mir für meine Arbeit nicht vorstellen, weil genau solche strukturellen Geschichten für mich so spontan nicht lösbar sind. Dann müsste ich ja während des Prozesses vor- und zurückspringen, wenn ich merke, dass sich etwas wiederholt. Das wäre mir viel zu stressig. Ich muss das Buch schon echt gut kennen und erst dann geht’s los mit dem Übersetzen.
Vielleicht können wir nochmal zurückkommen auf den ersten Satz. Hattest du hier noch andere Schwierigkeiten?
Ich habe mich auch ein bisschen mit dem Modalverb ‚moeten‘ gestritten: ‚Noch nicht machen sollte‘, ‚noch nicht machen dürfte‘, … Bei ‚moeten‘ gibt es immer Interpretationsspielraum. Ich weiß gar nicht, ob das konzeptionell im Niederländischen überhaupt so klar getrennt ist und ob ich den Autor, angenommen er spräche gut Deutsch, fragen könnte, ob er hier eher ‚dürfen‘ oder ‚sollen‘ gemeint hat. Da musste ich mich im Deutschen eben irgendwie entscheiden und ich habe ein ‘dürfen’ daraus gemacht, weil ich es einfach fesselnder finde. Aber das kann sich auch noch ändern, weil der Text noch nicht lektoriert ist.
Also nimmst du manchmal auch Kontakt zu den Autor:innen auf, wenn du Fragen zum Buch hast, oder eine Stelle nicht richtig verstehst?
Wenn die Autor:innen noch leben, dann habe ich schon Kontakt. Meine eigene Regel ist, Fragen erst am Ende des Buches zu stellen, wenn ich ganz sicher bin, dass ich sie durch Recherche, intertextuelle Bezüge usw. nicht habe lösen können. Am Anfang hatte ich noch große Hemmungen, aber die meisten Autor:innen sind ja einfach super nett, freuen sich darüber, dass sie übersetzt werden, und helfen auch total gerne.
Du übersetzt ja Prosa und Lyrik aus dem Niederländischen, hast aber selbst auch schon eigene Werke, vor allem Kinderbücher, geschrieben und veröffentlicht. Was ist für dich der Unterschied zwischen dem Schreiben und dem Übersetzen eines ersten Satzes?
Also ganz banal: Jemand anders hat sich den ersten Satz ausgedacht und ich als Übersetzerin muss die passende deutsche Form für das finden, was der Autor oder die Autorin damit rüberbringen wollte. Wenn man selbst einen ersten Satz schreibt, muss man sich konzeptionell ganz andere Gedanken machen: Wie kriege ich die Lesenden sofort mit dem ersten Satz? Da direkt den richtigen Ton zu treffen, ist eine Herausforderung. Das ist es natürlich auch beim Übersetzen, aber wenn man selbst schreibt, schwebt man sozusagen im luftleeren Raum, und wenn man übersetzt, hat man einen ganz starken Leitfaden, an dem man sich orientieren kann. Man ist mit dem Schreiben also viel mehr auf sich allein gestellt.
Ein Interview von Hanna Otte
Ruth Löbner, geboren 1976, studierte Allgemeine Sprachwissenschaft und Neuere Deutsche Philologie in Düsseldorf. Heute lebt und arbeitet sie als freischaffende Autorin und Literaturübersetzerin aus dem Niederländischen in Mönchengladbach.
Weitere Informationen: ruth-loebner.de