Aller Anfang ist schwer #2

Bärbel Jänicke

Bärbel Jänicke © Christoph Bombart

Sachbücher machen schlau“

 

Im Interview spreche ich mit Bärbel Jänicke über ihre Übersetzung von Sandra Langereis’  „Erasmus – Biografie eines Freigeists“. Erasmus von Rotterdam war einer der größten Gelehrten seiner Zeit, ‚bahnbrechender Vordenker und Wegbereiter der modernen europäischen Kultur’ wird er im Klappentext genannt. Die deutsche Übersetzung der Biografie erschien Ende 2023 im Verlag Propyläen.

 

Welche Schwierigkeiten hattest du beim Übersetzen dieses ersten Satzes?
Dieses Buch hat eigentlich einen ganz harmlosen ersten Satz. Ich glaube, es ist einer der kürzesten Sätze im ganzen Buch:

 

Op 27 juni 1598 vertrok Erasmus uit de haven van Rotterdam.

Am 27. Juni 1598 verließ Erasmus den Rotterdamer Hafen.

 

Aber, was wahrscheinlich nicht jedem Leser direkt auffällt, auch ich habe es beim ersten Lesen nicht direkt gemerkt: Erasmus ist 1598 schon 62 Jahre tot. Übersetzerisch ist der Satz natürlich keine Meisterleistung, es gibt keine besonderen grammatikalischen Schwierigkeiten, aber ich musste schon kurz überlegen, welches Verb ich nehme. Man könnte ‚hij vertrok‘ zum Beispiel auch mit ‚er reiste ab‘ oder ‚er ging auf eine Reise‘ übersetzen. Ich habe ‚verlassen‘ gewählt für denjenigen, der da verreist und der, ohne weiter zu spoilern, offensichtlich nicht Erasmus sein kann. ‚Abreisen‘ wäre an dieser Stelle zu aktiv gewesen.

Dieser erste Satz ist also eher ungewöhnlich für ein Sachbuch?
Ja, sehr ungewöhnlich. Normalerweise fangen Biografien mit der Geburt oder bei den Eltern an. Hier ist es ganz anders. Der erste Satz ist der Beginn eines – für ein Sachbuch sehr überraschenden – Prologs. Beim ersten Lesen dachte ich, dass alles erfunden ist. Und wenn man den Prolog dann zu Ende gelesen hat, stellt man fest, dass alles auf Fakten beruht. Sandra Langereis hat das ganz bewusst so gewählt. So harmlos dieses erste Sätzchen daherkommt, so wichtig ist es auch für den weiteren Verlauf der Geschichte. Es macht dem Leser deutlich: ‘Du musst aufpassen, was du für wahr hältst, du musst selber Fakten checken, du musst immer wach bleiben.‘ Und genau darum ging es Erasmus selbst natürlich auch. Er hat die Bibel neu übersetzt und war einer der ersten, der sie dafür noch einmal auf die ursprünglichen griechischen Texte zurückgeführt hat. Er wollte dem Leser die Möglichkeit geben, die Übersetzung selbst zu kontrollieren. Das war eine Selbstermächtigung des Lesers, an der Erasmus sehr viel lag und die auch Sandra Langereis wichtig war. Sie hat im Buch wahnsinnig viele Anmerkungen mit Zitaten aus lateinischen Briefen von Erasmus gemacht. Sandra Langereis hat die Briefe ins Niederländische übersetzt und ich ins Deutsche. Das war nicht ganz einfach, weil auch ich immer wieder zu den lateinischen Grundtexten zurückgehen und schauen musste, wie sie das übersetzt hat und ob es andere Übersetzungen gibt. Also im Grunde ist es auch ein Buch über das Übersetzen.

Was ist beim Übersetzen eines Sachbuches anders im Vergleich zu einem Roman, worauf muss man als Übersetzer:in achten?
Dieses Buch ist für ein Sachbuch eigentlich sehr literarisch geschrieben. Deswegen gab es hier ähnliche Schwierigkeiten wie bei einem Roman, aber darüber hinaus gab es auch noch eine ganze Menge andere Dinge, die man beim Sachbuch einfach checken muss. Es geht in der Biografie zum Beispiel auch um das Entstehen des Buchdrucks und da gibt es natürlich ganz viele Fachbegriffe, die man nachschauen muss. Da könnte ich noch viele Beispiele nennen. In Romanen kann das zwar auch vorkommen, aber bei Sachbüchern ist man viel mehr damit beschäftigt, solche Dinge auszugraben.

Wie bist du bei der Recherche vorgegangen?
Ich habe natürlich viel online nachgeschaut, das ist eine große Erleichterung. Ich weiß gar nicht, wie Übersetzer:innen das vor dem Internet geschafft haben. Aber manches findet man auch online nicht. Historische Sachverhalte sind da oft ein bisschen schwierig. Zum Beispiel kann ich mich an ein Problem erinnern, bei dem es um die Schule zur damaligen Zeit ging. Die Kinder wurden häufig noch geschlagen. Es gab da einen Gegenstand, der auf Niederländisch ‚plak‘ heißt und auch im Buch vorkam. Er sieht aus wie ein ziemlich massiver Kochlöffel. Ich habe das deutsche Wort einfach nicht gefunden und habe dann sogar überlegt, an ein historisches Schulmuseum zu schreiben. Als ich Sandra danach gefragt habe, ist sie selbst auch auf die Suche gegangen und hat die Ausgrabung einer Schule in Münster entdeckt, wo wir schließlich den richtigen deutschen Begriff gefunden haben: ‚Pritschholz‘. Aber da wäre ich niemals selbst draufgekommen. Irre, dass sie das gefunden hat! Mit so einem Wort ist man dann ewig beschäftigt, aber man lernt auch immer was – Sachbücher machen schlau.

Du hattest also viel Kontakt zur Autorin?
Ja, ich habe sie ein paar Mal in Amsterdam getroffen und wir haben viel hin und her geschrieben. Das war auch gut so. Manchmal waren ihre Antworten echt verblüffend. Es gab zum Beispiel überraschend viele Wortspiele in dem Buch. Erasmus hat die Adagia geschrieben, das ist eine Sprichwörtersammlung mit mehr als 4.000 antiken Sprichwörtern, die heute teilweise auch noch geläufig sind, ‚von Kopf bis Fuß‘ zum Beispiel oder ‚gesagt, getan‘. Sandra hat die Sprichwörter auch in den Text eingebaut und das ist mir nicht immer direkt aufgefallen. Sie musste mich oft darauf hinweisen. Die Übersetzung war dann manchmal auch gar nicht so einfach. Die Sprichwörter waren ursprünglich griechisch. Erasmus hat sie ins Lateinische übersetzt und Sandra ins Niederländische. Außerdem gibt es auch eine deutsche Übersetzung von den Adagia. Aber die stimmte nicht immer mit den niederländischen Sprichwörtern überein. Da musste ich dann schauen, ob ich das Sprichwort aus der deutschen Übersetzung übernehme oder ob ich es anders mache.

Was denkst du, würde Erasmus auf die Frage antworten, was die Kunst des Übersetzens ist?
Ich glaube, ihm war wichtig, dass die Lesenden die Möglichkeit hatten, auf den Originaltext zu schauen und zu verstehen, wie der Übersetzer gearbeitet hat. Bei seiner Bibelübersetzung versuchte er zum Beispiel nachvollziehbar zu machen, dass in der Bibel nicht direkt etwas zur Erbsünde stand, obwohl die Kirche das sagte. Womit er auch gelassen umgegangen ist, waren Fehler. Menschen machen Fehler und auch beim Übersetzen passieren immer Fehler. Er hat versucht, das transparent zu machen, und er hat nicht gesagt, ‚das ist jetzt die einzig mögliche Übersetzung‘, sondern eher, ‚ich habe es so gemacht und wenn es jemand anders macht, dann müssen wir darüber diskutieren‘. Ich glaube, diese für den Beginn des 16. Jahrhunderts sehr moderne Wissenschaftsauffassung ist es, die ihn ausgemacht hat.

 

Ein Interview von Hanna Otte

 

Bärbel Jänicke, geboren 1963, machte erst eine Ausbildung zur Buchhändlerin, bevor sie Kunstgeschichte, Archäologie und Philosophie studierte. Seit 2001 übersetzt sie aus dem Niederländischen und hat sich dabei auf literarische Sachbücher und wissenschaftliche Arbeiten über Philosophie, Kulturgeschichte und Naturwissenschaften spezialisiert. 2021 gewann Bärbel Jänicke den Else-Otten-Preis, mit dem alle drei Jahre die beste Übersetzung aus dem Niederländischen ins Deutsche ausgezeichnet wird.

Bärbel Jänicke © Christoph Bombart