Aller Anfang ist schwer #7

Bettina Bach

Bettina Bach © Peter Reich

„Für mich ist der Roman eine Art Perpetuum Mobile“

 

Mit ihrem Roman „Over de gekte van een vrouw“ feierte Astrid H. Roemer 1982 in den Niederlanden ihren großen Durchbruch. Heute gilt sie als eine der bekanntesten Stimmen der surinamischen Literatur. Zuletzt erhielt sie 2021 als erste PoC den Prijs der Nederlandse Letteren, den wichtigsten Literaturpreis für Autor:innen niederländischer Sprache. In diesem Jahr erscheint der Roman unter dem Titel „Vom Wahnsinn einer Frau“ in der Übersetzung von Bettina Bach im Residenz Verlag zum ersten Mal auf Deutsch. Im Interview spreche ich mit ihr über einige Herausforderungen, mit denen sie es bei der Übersetzung zu tun hatte.

 

„Vom Wahnsinn einer Frau“ spielt in den 1950er Jahren, in einer Zeit, in der Suriname noch eine niederländische Kolonie war, und erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die versucht, den gesellschaftlichen Bedingungen, die ihr auferlegt sind, zu entkommen – oder, wie sie selbst sagt, „die Beschränktheit [ihres] Frau-Seins, [ihres] Schwarz-Seins und [ihrer] materiellen Bedrängnis“ zu überwinden.

 

Vor dem Interview hast du mir bereits die ersten Sätze des Buches zugeschickt – warum gleich drei?
Das Buch beginnt mit einem Zitat aus einem surinamischen Klassiker. Darauf folgen ein Gedicht und die Widmung. Nach der Widmung geht es dann los mit einem Brief der Erzählerin an ihre spätere Geliebte. Und dieser Brief fängt folgendermaßen an – der erste erste Satz:

 

Wij zijn aan het groot jaar begonnen.

Für uns hat das Große Jahr begonnen.

 

Beim ersten Lesen war mir nicht klar, dass ‚das Große Jahr‘ ein astronomischer Begriff ist. Erst zum Schluss, nachdem ich das ganze Buch gelesen hatte, konnte ich diesen Satz einordnen. Das war aber nicht die größte Schwierigkeit, dazu später mehr.
Ähnlich war es beim zweiten ersten Satz, auch diesen konnte ich nicht direkt übersetzen:

 

In 1875 werd in Suriname voor het laatst de doodstraf voltrokken.

Die Todesstrafe wurde in Suriname 1875 zum letzten Mal vollstreckt.

 

Dieser Satz stammt aus dem ‚Nachtrag‘, der auf den Brief folgt. Das Wort ‚Nachtrag‘ deutet schon darauf hin, dass dieses Stück eigentlich an den Schluss des Buches gehört. Erst später habe ich verstanden, dass es am Anfang steht, um dem Ende ein Gegengewicht zu bieten. Der Nachtrag bezieht sich auf die unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen und schildert, dass der Letzte, der in Suriname 1875 wegen Mordes hingerichtet werden sollte, begnadigt wurde und letztlich wieder freikam.
Erst dann geht die eigentliche Erzählung los. Der dritte erste Satz erschließt sich unmittelbarer:

 

Mijn huwelijk duurde precies negen dagen en veroorzaakte in ons oeverstaatje een deining die mij een leven lang onrustig hield.

Meine Ehe dauerte genau neun Tage und schlug so hohe Wellen in unserer kleinen Küstenstadt, dass ich ein Leben lang unruhig blieb.

 

Normalerweise fange ich nicht am Anfang an zu übersetzen, aber hier musste es sein, weil die Komplexität des Romans mich dazu genötigt hat. Also bin ich mit diesem Satz, dem ersten, der sich mir unmittelbar erschloss, in die Übersetzung gestartet.

Du hast also bei diesem dritten ersten Satz angefangen zu übersetzen, wie bist du dann weiter vorgegangen?
Irgendwann habe ich gemerkt, dass das Buch zyklisch aufgebaut ist. Genauso habe ich es dann auch übersetzt: Ich habe im ersten Durchlauf von vorn nach hinten übersetzt, die astronomischen Zusammenhänge nach und nach begriffen und bin erst dann zum Anfang zurückgekehrt und habe den Brief und den Nachtrag aufgenommen. Für mich ist der Roman eine Art Perpetuum Mobile, bei jeder neuen Redaktionsrunde bin ich in tiefere Schichten vorgedrungen und habe immer mehr entdeckt und verstanden.

Du hast gerade schon angedeutet, dass es bei dem ersten ersten Satz noch mehr Schwierigkeiten gab. Was genau meintest du damit?
Wie viele Briefe beginnt auch dieser mit einem Datum und einer Ortsangabe. Auf Niederländisch ist diese Ortsangabe ‚Nevelen Merak‘. Ich konnte mir darunter nichts vorstellen und auch bei einer ersten Recherche nichts finden. Für mich hat sich das erst erschlossen, nachdem ich das ganze Buch übersetzt hatte und mir klar wurde, dass Astronomie eine große Rolle spielt.
‚Nevelen Merak‘ sind auf Deutsch die Eulennebel, ein Sternennebel, der zum Großen Bären gehört. Und ‚Merak‘ ist ein Stern im Großen Bären. Stünde im Deutschen aber nur ‚Eulennebel Merak‘, könnten sich die Lesenden wahrscheinlich gar keinen Reim darauf machen. Ohne die Eule, wie im Original, ist es etwas einfacher. Darum habe ich die Große Bärin mit aufgenommen.
Das ist übrigens auch interessant. Der astronomische Begriff ist ‚Große Bärin‘, nicht ‚Großer Bär’. Niemand konnte mir sagen, warum das lateinische ‚Ursa Major‘ im Deutschen in eine männliche Form übersetzt wurde. Gerade bei diesem Buch war es natürlich fantastisch, die fachsprachliche weibliche Form zu verwenden.
Am Ende habe ich zur Absicherung noch in astronomischen Instituten nachgefragt, wie es sich genau mit den Eulennebeln und der Großen Bärin verhält, und so wurde in der finalen Fassung meiner Übersetzung die Ortsangabe dann zu ‚Große Bärin, Eulennebel, Merak‘.

Du hast ja auch schon ein weiteres Buch von Astrid H. Roemer übersetzt, das auch in Suriname spielt, hat das die Übersetzung von diesem Buch vereinfacht, welche neuen Herausforderungen gab es?
„Gebrochen Weiß“ ist sehr viel später entstanden als „Vom Wahnsinn einer Frau“, da war Astrid H. Roemer schon lange als Meisterin des inneren Monologs bekannt. Ich habe es aber vorher übersetzt und das war eine riesengroße Herausforderung. Zum einen gibt es sechs Erzählfiguren. Der Fließtext ist in lange Absätze eingeteilt, und es gibt nur bei Szenen- oder Erzähler:innenwechsel eine Leerzeile. Der Name der Erzählfigur kommt nur am Anfang und am Ende ihrer/seiner Erzählpassage jeweils einmal vor. Ich musste unglaublich aufpassen, diese Methode immer klar einzuhalten. Eine zweite große Herausforderung war der surinamische Rhythmus, der ganz anders ist als beim europäischen Niederländisch.
Das war bei „Vom Wahnsinn einer Frau“ anders. 1982 war das Selbstbewusstsein noch nicht groß genug, um den Rhythmus der lingua franca Surinames, des Sranan Tongos, in die Literatur einfließen zu lassen. Daneben gibt es nur eine Erzählerin, die allerdings auch oft zwischen den Szenen hin und her springt. Manchmal weiß man nicht auf Anhieb, ob man sich in der Erzählgegenwart, in der Kindheit oder am Anfang der Ehe befindet. Es war sehr spannend, die Anfänge von Roemers Kunst des inneren Monologs mitzuerleben.

 

Ein Interview von Hanna Otte

 

Bettina Bach (1965), wuchs zweisprachig in Frankreich und Deutschland auf und arbeitete in verschiedenen Bereichen der Literaturbranche, darunter sieben Jahre bei einem unabhängigen Verlag in Amsterdam. Seit 2002 übersetzt sie aus dem Französischen und Niederländischen. Im Jahr 2014 wurde sie für ihre Übersetzung von Arjan Vissers „Der blaue Vogel kehrt zurück“ (dtv) mit dem Else-Otten-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Weitere Informationen: euregio-lit.eu

Bettina Bach © Peter Reich