Aller Anfang ist schwer #5

Gerd Busse

„Den typischen Elsschot-Ton richtig treffen“

 

Im Interview spreche ich mit Gerd Busse über seine Übersetzung eines Klassikers der flämischen Literatur: „Tsjip“ (dt.: Tschip) von Willem Elsschot. Erstmals erschienen ist der Roman 1934. Fast 90 Jahre nach Publikation des Originals erscheint am 19. Februar 2024, die Neuübersetzung von Gerd Busse im Grenzecho Verlag im belgischen Eupen.

 

Der Roman Tschip handelt davon, wie Adele, die Tochter des Alter Egos von Elsschot im Roman, Frans Laarmans, nach vielem Hin und Her einen polnischen Jüngling heiratet und mit ihm nach Polen zieht. Laarmans kann sein Glück kaum fassen, als er seinen Enkel, den er Tschip nennt, zum ersten Mal sieht. Es ist einer der persönlichsten Romane Elsschots, der oft sehr autobiografisch geschrieben hat. Das Besondere an dem Roman ist, dass es diesen Tschip wirklich gegeben hat – und: es gibt ihn immer noch, es ist ein gewisser Jan Maniewski aus Antwerpen, der mittlerweile 90 Jahre alt ist.

 

Mit welchen konkreten Herausforderungen hattest du es bei der Übersetzung des ersten Satzes zu tun?
Dem Roman vorangestellt ist eine Widmung, ein ‚opdracht’ im Niederländischen. Dieser beginnt mit dem Satz:

 

Voor de zóveelste maal kom ik thuis van de reis en weer staat mijn stoel gereed, tafel en bed gedekt, pantoffels bij ’t vuur, alsof ik iedere dag verwacht werd.

Zum soundsovielten Male komme ich von der Reise nach Hause, und wieder steht mein Sessel für mich bereit, der Tisch ist gedeckt und das Bett gemacht, die Pantoffeln stehen am Ofen, als würde man mich jederzeit erwarten.

 

Bei der Übersetzung gab es verschiedene Probleme. Zum einen muss man überlegen, was hier eigentlich mit ‚stoel‘ und was mit ‚vuur‘ gemeint ist. Ist das ein Stuhl oder ein Sessel und ist das ‚vuur‘ ein Kamin oder ein Ofen? Ich habe dann überlegt, dass Pantoffeln wahrscheinlich eher neben einem Sessel als neben einem Stuhl stehen. Und das ‚vuur‘ kommt an einer anderen Stelle nochmal vor, aus der deutlich wird, dass es ein Ofen sein muss. Es gab aber noch ein viel größeres Problem: Elsschot hat ein Jahr später noch ein Nachwort zu diesem ungefähr anderthalbseitigen Vorwort geschrieben, in dem er die Widmung auf 15 Seiten fast Wort für Wort seziert und auf die richtigen Formulierungen hin analysiert. Da musste ich als Übersetzer höllisch aufpassen, dass ich den Text so übersetze, dass er auch mit den Überlegungen des Autors im Nachwort übereinstimmt.

Elsschot hat das Buch 1934 geschrieben, das ist inzwischen fast 90 Jahre her. Die Sprache hat sich in der Zeit sehr verändert. Wie bist du damit umgegangen?
Elsschot ist generell ein Autor, der sich auch für heutige Leserinnen und Leser noch ganz frisch liest, sodass man seine Sprache nicht besonders modernisieren muss. Ich musste da relativ wenig machen. Trotzdem hat sich die Sprache natürlich grundsätzlich geändert. Zum Beispiel heißt es an einer Stelle ‚Ons eigen gezin loopt natuurlijk mank‘. Mein erster Impuls war, es mit ‚drunter und drüber‘ zu übersetzen. Aber das tauchte dann kurz danach nochmal auf. Und dann war das natürlich verbrannt, sowas kann man nicht zweimal schreiben. Dann dachte ich an ‚unsere Familie geht natürlich am Stock‘, aber gab es diesen Ausdruck 1934 auch schon? Ich habe das recherchiert, konnte nichts finden und habe mich dann schließlich für ‚in der Familie herrscht Chaos‘ entschieden, was ungefähr dasselbe bedeutet, aber unverfänglicher ist, weil man das so wahrscheinlich auch damals schon gesagt hätte. Es ist wichtig, dass das Buch immer noch in die Zeit passt. Man kann nicht sowas schreiben wie ‚das ist ja super’ oder so, das wäre dann ein Anachronismus.

Elsschot kommt ja aus Flandern, sieht man das auch an seiner Sprache?
Obwohl Elsschot bewusst in niederländischem Niederländisch und nicht in belgischem Niederländisch geschrieben hat, benutzt er durchaus flämische Wendungen. Ein Wort, das mir da ein bisschen Schwierigkeiten bereitet hat, ist die ‚baker‘ (dt.: Amme), die bei Tschips Geburt als Hebamme fungiert und im Niederländischen eigentlich eine ‚vroedvrouw‘ ist. Das habe ich recherchiert und herausgefunden, dass man die beiden Begriffe früher in Flandern und auch in den Niederlanden oft durcheinandergeworfen hat. Und weil das einfach logischer war, habe ich aus der Amme eine Hebamme gemacht.

Es gibt ja schon eine Übersetzung von Else von Hollander-Lossow aus dem Jahr 1936. Warum ist es jetzt Zeit für eine Neuübersetzung?
Nachdem ich den Originaltext übersetzt hatte, habe ich meine Übersetzung nochmal mit der Version der Kollegin aus 1936 verglichen. Das war eine Übersetzung, die Literaturgeschichte geschrieben hat, weil ein Satz, in dem es um die Befreiung von Unterdrückten geht, einfach weggelassen wurde, wahrscheinlich von der Übersetzerin selbst. Man vermutet, dass sie hier Selbstzensur betrieben hat, um der Zensur der Nazis zu entgehen. Man könnte denken, dass man diesen Satz ja auch nachträglich hätte einfügen können. Warum doch eine Neuübersetzung? Ich finde, die Übersetzung von Else von Hollander-Lossow liest sich für die heutige Leserschaft etwas altbacken und holprig, weil sie sich stark an der Wortwahl und der Syntax des Niederländischen orientiert hat. Sie hat viele Wörter und Wendungen verwendet, die man heute nicht mehr benutzen würde. Außerdem enthält die Übersetzung zahlreiche Verständnis- und Übersetzungsfehler. Ich finde auch nicht, dass sie den typischen Elsschot-Ton richtig getroffen hat. Auf der anderen Seite sind ihr aber auch ein paar schöne Funde gelungen. So heißt es zum Beispiel über die Geburt von Tschip: ‚Een, twee, drie en wip‘, dann war Tschip auf der Welt. Ich hatte das mit ‚Eins, zwei, drei und zack‘ übersetzt. Else von Hollander-Lossow hatte das ‚wip‘ dagegen mit ‚schwupp‘ übersetzt, was mir viel besser gefiel, sodass ich es dankend übernommen habe.
In meiner Übersetzung habe ich darauf geachtet, dass die Sätze gut laufen, ohne dem typischen Elsschot-Ton Gewalt anzutun. Aber auch Werktreue war mir wichtig. An vielen Stellen war es nur möglich, so nah an Elsschots Wortwahl zu bleiben, weil ich heute das Internet zur Verfügung habe. Online-Tools und Spezialwörterbücher hatte meine Kollegin 1936 natürlich noch nicht. Deswegen habe ich auch größte Hochachtung vor ihrer Leistung, weil ihr bei manchen kniffligen Wendungen oder Passagen doch ausgezeichnete Lösungen eingefallen sind.

Wie lange hast du an der Übersetzung gearbeitet?
Ich habe länger an der Übersetzung dieses eigentlich sehr kurzen Romans gesessen, als ich vorher gedacht hätte. Ich denke, dass ich insgesamt so drei bis vier Wochen für alles, inklusive Korrekturlesen, gebraucht habe. Der Rechercheaufwand war doch relativ hoch. Ich hatte aber auch Glück: Es gibt in Flandern Elsschot-Experten, unter anderem Koen Rymenants aus Brüssel, der auch schon über „Tschip“ publiziert hat. Er hat mir angeboten, ihm Fragen zu stellen, und ich habe ihm ein Loch in den Bauch gefragt. Das ist der Qualität der Übersetzung zugute gekommen, weil ich jetzt das Gefühl habe, dass ich alles richtig verstanden habe und der Text keine gravierenden Übersetzungsfehler mehr enthält.

 

Ein Interview von Hanna Otte

 

Gerd Busse, geboren 1959, studierte Erziehungswissenschaften, Politologie und Niederlandistik in Göttingen, Amsterdam und Berlin. Heute arbeitet er als Wissenschaftler, Berater, Publizist und Übersetzer. Neben zahlreichen Romanen, Sachbüchern und Gedichtbänden übersetzte er alle sieben Bände (über 5000 Seiten) der niederländischen Romanreihe „Het Bureau“ von J.J. Voskuil. Seine kleine Firma, mit der er grenzüberschreitende Projekte in Deutschland und den Niederlanden entwickelt, berät und unterstützt, hat er nach Voskuils Großwerk benannt.

Weitere Informationen: het-bureau.de