Freundschaftsprojekt #1.1

Liebe Aya!

Marlen Hobrack © Michael Bader

Der erste Brief der Leipzigerin Marlen Hobrack an ihre flämische Brieffreundin Aya Sabi:

 

Liebe Aya, 

ich schreibe meinen Brief mit großer Verspätung. Ich habe, sozusagen, die Deadline überschritten. Ich bin also schon zu Beginn unseres Austausches eine unzuverlässige Brieffreundin! Für gewöhnlich liefere ich Texte sehr zuverlässig ab. Derzeit verhält es sich etwas anders. Das letzte Jahr war, was das Schreiben anbelangt, ein ungemein produktives Jahr. Ich genieße diese vita activa als Schreibende, doch sie hat den Nebeneffekt, dass ich immerzu vertrösten muss. Mein Text kommt, bestimmt, bald… Nun also schreibe ich an dich, die ich kurzerhand duze. 

Heute ist der Tag der Deutschen Einheit, ein Feiertag, auch ein Tag, der für die Deutschen mit allerhand eingespielten Ritualen einhergeht. Jedes Jahr aufs Neue wird die Frage gestellt, wie gut Ost- und Westdeutschland, die alte BRD und die Vergangenheit gewordene DDR zusammengewachsen sind. Ob man nun ein Volk sei, und ob so ein geeintes Volk überhaupt ein Idealzustand oder eher ein Albtraum sei. Die Deutsche Einheit war und ist ein historisches Ereignis, das Pathos, Freude und Enttäuschung evoziert. 

Als Ostdeutsche verfolge ich mal mehr, mal weniger intensiv Einheitsfestakte. Dagegen ist die Frage, warum so viele Ostdeutsche die Einheit als unvollendet betrachten, ein Thema, über das ich häufig schreibe. Für die meisten Bundesbürger bedeutet der Tag der deutschen Einheit ganz praktisch, dass man einen Feiertag genießt – so man nicht als Krankenschwester oder Ärztin, als Busfahrer oder Polizist arbeitet und allem Feiern zum Trotz auf Arbeit erscheinen muss. 

Für mich bedeutet der Feiertag zunächst einmal, dass ich weniger Zeit zum Schreiben habe – denn mein Kleinkind und mein Mann sind zu Hause, und ich genieße nicht den üblichen Freiraum für ungestörtes Arbeiten. (Während ich dies hier tippe, stürmt mein Kleinkind mit einer selbstgebastelten Steinschleuder durch die Wohnung.) 

Neulich las ich die Tagebücher von Brigitte Reimann. Reimann war eine DDR-Autorin, die recht jung verstarb. Reimann jedenfalls unterhielt Briefwechsel mit zahlreichen Autoren, wie es eben so üblich war für Schriftsteller – und sicher noch ist. Ich beneide Schriftsteller, die einen umfangreichen, echten (also auf Papier gespeicherten) Briefwechsel zu anderen Autoren pflegen. Mein Kontakt zu Autoren beschränkt sich auf Facebook- und Instagram-Nachrichten. Das wird wohl wenig Material für Germanisten der Zukunft bieten, weil nur wenige dieser Nachrichten erhalten bleiben dürften. 

Es heißt immer, das Netz vergesse nicht, aber mediengeschichtlich betrachtet ist das recht unwahrscheinlich. So gilt ja das Gesetz, dass sich die Speicherkapazität eines Mediums umgekehrt proportional zur Speicherdauer verhält. Eine Tontafel kann über Jahrtausende konserviert werden, aber nur wenige Worte enthalten; der Brief kann über Jahrhunderte konserviert werden und einige Seiten umfassen; und die E-Mail oder die Messenger-Nachricht? 

Unsere Brieffreundschaft gründet gar nicht auf einem “echten” Brief, beginnt vielmehr mit einer digitalen Textdatei, die per Mail versandt wird. Unser Briefwechsel, der gar keiner ist, ist flüchtiger, ephemer, doch das muss nichts Schlechtes bedeuten. Es erscheint mir nur eigentümlich, dass die Briefe, die ich für gewöhnlich schreibe, Behördenbriefe sind. Du musst wissen, dass die Kommunikation zwischen Behörden und Bürgern in Deutschland noch immer sehr vorsintflutlich anmutet: Für gewöhnlich druckt man PDF-Dateien aus, um sie per Brief an eine Behörde zu versenden oder sie in der zuständigen Poststelle abzugeben. Freunde dagegen adressiere ich, wie vielleicht die meisten Menschen dieser Tage, per Chatnachricht. Das hat etwas Ungezwungenes, ganz sicher etwas Unverbindliches. Ist solch ein Brief nicht sehr viel verbindlicher? 

Ich schreibe dich an; und während ich diesen Satz tippe, frage ich mich, ob das Anschreiben einer noch unbekannten Freundin vergleichbar ist mit dem Schreiben eines Buches, bei dem man den Leser allenfalls imaginieren kann. Wie wird der Leser den Text aufnehmen, und was passiert mit dem Text unter den Augen der Leserin? 

Vielleicht hast du es schon bemerkt: Ich neige dazu, soziale Konventionen zu brechen. Sicher hätte meine erste und wichtigste Frage lauten müssen, wie es dir geht und was dich gerade bewegt. So rückt sie nun ans Ende dieses Briefes: Wie geht es dir, Aya? Was beschäftigt dich gerade – in deinem Schreiben oder ganz persönlich? 

 

Ich freue mich, von dir zu hören und grüße dich aus dem verregneten, stürmischen Leipzig. 

Marlen Hobrack 

Leipzig, 3.10.2023

 

 

Neugierig, wie es weitergeht? Den Antwortbrief von Aya an Marlen gibt es hier.

 

 

Unter dem Titel „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“ setzen sich die sechs Autorinnen Aya Sabi, Marlen Hobrack, Nadia de Vries, Linn Penelope Rieger, Sholeh Rezazadeh und Kaśka Bryla aus den Niederlanden, Flandern und Leipzig mit dem Thema Freundschaft auseinander. Was genau macht eine echte Freundschaft aus? Was bedeuten uns Freunde in unsicheren Zeiten? Wie weit würden wir in Zeiten von Krisen und Kriegen für einen Freund oder eine Freundin gehen? Während des literarischen Herbstes begegneten sich die Autorinnen zum ersten Mal persönlich. Im Februar werden sie sich in Rotterdam und Antwerpen wiedertreffen und im März gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse auftreten. Und bis dahin? Schreiben sie sich und werden vielleicht – hoffentlich – Freundinnen.

Marlen Hobrack © Michael Bader